Wolfgang Melzer

(Rednerladen)

Hingehört: Rede- und andere Textkritiken

Wer sich öffentlich äußert, muss damit rechnen, dass irgendwer zuhört.

Wir schauen denen "aufs Maul" und "auf den Stift", die mehr öffentliche Aufmerksamkeit bekommen als die meisten anderen. Weil sie die Maßstäbe setzen für den Sprachgebrauch.

Was muten sie uns zu?
Was trauen sie uns zu?
Wie stellt sich der Redner/die Rednerin zu den Zuhörern?
Was sagen uns die Reden oderSchriften über ihre Erfinder?

Mit meinen vergleichsweise bescheidenen Mitteln eifere ich Karl Kraus nach, der mir mit seiner "Fackel" zuerst gezeigt hat, was man in der Sprache alles aufdecken kann.

Zugegeben: Meine Urteile sind subjektiv. Aber ich höre hin! Genau!


Persilschein für „Altparteien“ und „Lügenpresse“


Eine Erwiderung auf den Artikel Matthias Lohre: „Das Opfer ist der neue Held“, Sächsische Zeitung ,12.12.2019

 

Wo soll man anfangen mit einer Antwort auf den Artikel von Matthias Lohre, einem geborenen Münsterländer, den die Sächsische Zeitung unter dem Titel „Das Opfer ist der neue Held“ am 12. Dezember ins Feuilleton gerückt hatte? Ungereimtheiten allenthalben. Dazu ein belletristischer Stil, der eher forsch daherkommt als abwägend. Die Thesen werden mit einem Stilmittel, das in der Rhetorik bekannt ist als „parteiisches Berichten“, mehr illustriert als faktisch gestützt. Wie es für diese Art zu schreiben charakteristisch ist, werden Gegenargumente nicht erwähnt und schon gar nicht in Betracht gezogen. Das mag bei Life-Style-Themen zulässig sein, ist jedoch in einem verminten Gelände wie es hier betreten wird, grob fahrlässig und fehl am Platze. Ich hätte eine Darstellung erwartet, die genau unterscheidet, was man weiß und was man vermutet. Aber der Autor hält es nicht für nötig, wenigstens den Versuch zu unternehmen, seine Thesen an der Realität zu testen, ja nicht einmal am Gegenargument wird die Haltbarkeit des Geschriebenen geprüft. Das ist – methodisch gesehen – selbst für eine Zeitungsseite definitiv zu schlicht.
Aber gehen wir der Reihe nach.
Der erste Absatz beschäftigt sich mit Herrn Höcke und seinen unsäglichen Aussagen. Der Autor hält Höcke für gefährlich, weil er die Opferrolle für sich reklamiere und „seine ‚Flügel‘ genannte Parteiströmung … AfD-intern immer mehr Macht“ gewinne.
Nachdem er dies konstatiert hat schlägt Matthias Lohre eine rhetorische Volte, die es in sich hat.
Er leitet sie ein, indem er rhetorisch fragt: „Aber was genau macht es so attraktiv, sich als Opfer zu verstehen? Und was ist daran so gefährlich?“
Es folgt ein Übergangsabschnitt, in welchem er auf Thesen aus seinen Büchern „Das Erbe der Kriegsenkel“ und "Das Opfer ist der Neue Held" zurückgreift. Und schließlich fortfährt: „Doch wie Traumata entstehen und über Generationen fortwirken, interessiert nur eine Minderheit. Besonders gering ist das Verständnis im Osten. Als 2012 Psychologen und Therapeuten in Göttingen zu einer ersten Tagung über die Kinder der Kriegskinder zusammenkamen, fand sich kein ostdeutscher Teilnehmer ein“, schreibt er. Und raunt: „Das hat seine Gründe.“
Nun, da hat der Autor recht, das hatte tatsächlich seine Gründe, soviel ist sicher. Welche Gründe das waren, ist damit zwar noch lange nicht geklärt, wird allerdings durch den Kontext der Frage schon nahegelegt. Offenbar kränkt es den Autor, dass andere seinen Ansatz der fortwirkenden Traumata nicht so überzeugend finden wie er selbst. Und er reagiert, wie in solchen Fällen häufig zu beobachten, mit Schuldzuweisungen. Es liegt an den Ossis, soviel ist sofort klar.
„Denn im Osten folgten den tief verstörenden Kriegserlebnissen viele weitere.“
(Dass die AfD eine westdeutsche Erfindung ist und der Vorstand bis heute von Westdeutschen dominiert wird, übergeht er mit Schweigen. Dabei haben die das Opfergebaren auch ohne die „vielen weiteren“ traumatischen Erlebnisse hingekriegt, soweit ich das aus ihren Äußerungen entnehmen kann.)
 Aber zurück zu den Ostdeutschen. Im Verständnis des Autors sind diese vielen weiteren Traumata der Grund, weshalb die Ossis so besonders uninteressiert auf das Tagungsangebot reagierten.
Er greift hier auf ein Muster zurück, das in der Psychoanalyse Tradition hat: Wenn Klienten ein therapeutisches Angebot ausschlagen, weil sie es für nicht zielführend halten oder für generell nicht relevant, dann liegt die Ursache dafür nicht im Angebot, sondern in den Klienten. Die können sich nämlich nach analytischer Lesart ihren Gespenstern nicht stellen und lehnen deshalb die Analyse ab. Freud fand dafür den Begriff “Widerstand“. Mit diesem Begriff immunisierte sich die Psychoanalyse von Anfang an gegen Kritik und unabhängige Überprüfung und machte sich unwiderlegbar.
Von seinem auf diese Weise befestigten Standpunkt aus fragt der Autor nun nicht etwa simpel , ob es noch andere Gründe für das Fernbleiben der Ossis geben könnte, Skepsis vielleicht hinsichtlich der wissenschaftlichen Redlichkeit einer Veranstaltung, in deren Beschreibung schon  eine Petitio Principii enthalten ist, nämlich in der Frage „wie Traumata über die Generationen fortwirken.“ Wo vielleicht zunächst einmal zu beweisen wäre, dass sie über Generationen fortwirken. Denn, mit Verlaub, man wie frau dürfen eine Fragestellung für unwichtig und eine Theorie (Nichts anderes ist die Psychoanalyse.) für Humbug halten, sofern sie Gründe dafür angeben können. Beenden wir an dieser Stelle diesen, zugegeben etwas persönlichen, Modus der Auseinandersetzung. Halten wir fest, der Autor hat jetzt die Brille auf der Nase, die ihn den Splitter im Auge der Ossis sehen lässt und legt los.

Im Wesentlichen zitiert er Hans-Joachim Maaz, der mit seinen steilen, aus der therapeutischen Praxis abgeleiteten und in griffigen Analogien vorgetragenen Thesen kurz nach der Wende Furore machte, allerdings schon damals hier und da für Kopfschütteln sorgte. Darauf im Einzelnen einzugehen, übersteigt die Möglichkeiten dieses Textes. Für hier reicht es festzuhalten, dass Lohre die Interpretationen von Maaz ungeprüft übernimmt.

Aber auch aus eigenem plappert er Ungesichertes: „Als die Mauer fiel, brach der alte Obrigkeitsstaat vielerorts einfach in sich zusammen. Vor allem in ländlichen Gegenden drängten Skinheads und andere Neonazis rasch ins Vakuum.“
Die Fakten sehen anders aus: Die CDU/CSU sprang in die Bresche und räumte ab. Hauptthema der öffentlichen Debatte waren damals der Erzfeind in Gestalt der PDS und ihre alten Seilschaften. Nazis spielten keine große Rolle. Die Wahlergebnisse der Republikaner und der NPD dümpelten im Osten wie im Westen um 1% herum. Da war Sachsen nicht „rechter“ als Schleswig-Holstein. Und das hätte man ja wohl erwarten müssen, bei all den Neonazis, die rasch ins Vakuum gedrängt waren.
Daran kann es also kaum gelegen haben, dass es so gekommen ist, wie es heute aussieht. Auf den Gedanken, dass in der Zeit von damals bis heute etwas passiert sein könnte, was die Verhältnisse grundlegend verschoben hat, kommt der Autor in keinem Winkel seines Denkens. Er bleibt unbeirrt bei seinem therapeutischen Ansatz und redet von den alten Traumata der Ostdeutschen. Und an der Sache vorbei.

Ein Extra-Wort ist nötig zum Bild, das den Artikel begleitet. Pioniere in Uniform (die ich übrigens gar nicht kannte) zeigen, versammelt vor der Kamera, den Pioniergruß. Erst als ich mich widerwillig doch entschloss, den Text darunter zu lesen, erfuhr ich, das Bild stammte aus dem Film „Helden wie wir“ von 1999. Wer immer das Bild ausgewählt hat, er hat denselben Fehler gemacht (um nicht von Sünde zu sprechen) wie der Autor im Text. Sie haben beide gezeigt, dass sie offenbar Filmbilder und Zitate, also Fakten aus zweiter Hand, für hinreichend halten, die DDR zu beschreiben. Nun ist es aber so, dass ein Bild aus einem Film in erster Linie etwas über den Film aussagt, es als Abbild der Wirklichkeit zu verwenden ist unredlich. Schon der Versuch sollte geächtet werden. Wer bewegt sich da in einer Blase?

Anders als Matthias Lohre komme ich zu dem Schluss, dass es nicht nur die alten, vorwendischen Wunden sind, die uns heute Schwierigkeiten machen, sondern eben auch solche, die in den letzten dreißig Jahren hinzu gekommen sind. Auch die verursachen möglicherweise Probleme und zwar in der ganzen Bundesrepublik. Es wird Zeit, dies endlich ins Kalkül aufzunehmen. Ob das mit einem Freispruch für die Altparteien und die Leitmedien endet, bleibt abzuwarten.


 

Wer meine Kritik mit dem Originalartikel von Matthias Lohre vergleichen möchte, der findet denselben, leider kostenpflichtig, hier:

Mein obiger Leserbrief hat es nicht in die Sächsische Zeitung geschafft. Dafür am 19.12.2019 die zahme und zwergenhafte Erwiderung von
Siegfried Fuchs unter dem vielsagenden Titel: "Ich bin kein DDR-Opfer"


Rede von Jörg Bernig am 7.9.2016 in Kamenz
"3. Kamenzer Rede in St. Annen" mit dem Titel
"Habe Mut . . ." - Eine Einmischung

Redekritik

Am 7. September 2016 saß ich mit verschlagener Stimme in der Kamenzer Annenkirche. Jörg Bernig hielt die dritte „Kamenzer Rede in St. Annen“. Ich argwöhnte Inkosistenzen, hätte sie aber schwerlich benennen können, denn der Redefluss spülte sie hinweg, ehe ich sie sicher zu fassen kriegte.
So etwas kommt immer wieder einmal vor und ist nicht zwingend dem Redner anzulasten, sondern oft genug meiner Begriffsstutzigkeit als Zuhörer. Dennoch: Je länger es dauerte, je zwingender drängte sich mir der Gedanke auf, einer sprachlichen Übertölpelung beizuwohnen bzw. – meine Sprachlosigkeit ansehend – ihr ausgesetzt zu sein. Sarkasmus stieg in mir auf.

Nach der Rede gab es Gelegenheit, dem Redner Fragen zu stellen oder Anmerkungen zu machen. Die einzige Reaktion, zu der ich fähig gewesen wäre, bestand in zwei giftigen Fragen, die ich dem Redner gern entgegengeschleudert hätte:
1. Auf einer Skala von 1 bis 10: Für wie argumentativ halten Sie Ihre Rede?
2. Dto.: Wie manipulativ war sie?
Da ich wenig Hoffnung hatte, mich genau an Argumentstrukturen und manipulative Formeln zu erinnern, meine Fragen also zu begründen, unterließ ich es, sie öffentlich zu stellen. So saß ich da und grämte mich ob meiner Langsamkeit. Die kommt zwar meistens vom Denken, ist trotzdem ärgerlich, sobald es ums Streiten geht.

Seit ein paar Tagen besitze ich nun ein gedrucktes Exemplar des „leicht überarbeiteten“ Textes der Rede – und bin versöhnt mit meiner Unfähigkeit zur zivilisierten Reaktion.
Der Text ist verwirrend, wenn auch klar ist, wohin er zielt. Mal sind es Sprachschlampereien, mal Auslassungen oder unklare Bezüge, die dem Hörer das kritisch-diskursive Mitdenken schwer machen (sollen?). Als hüte sich der Autor, durch zu viel Deutlichkeit angreifbar zu werden. So bleibt ihm immer das Missverständnis als Rückzugsmöglichkeit.

Das beginnt schon mit dem ersten Satz der Vorrede, die der Autor für nötig hielt:
„Sehr geehrte Damen und Herren, meine heutige Rede wird für diejenigen, die mein Schreiben kennen, sicher nichts weniger als eine Abweichung sein.“
Wie das so ist mit den mehrfachen Verneinungen, am Ende weiß nicht einmal der Sprecher, was er da sagt. Die Rede ist nichts weniger als eine Abweichung – also keine Abweichung?
Oder doch gerade eine Abweichung?
So schreibt einer, dem an Klarheit nicht gelegen ist.
Eine knappe Seite später die Auflösung: „Heute nun einmal eine Abweichung davon.“
Also doch, würde sich der Hörer sagen, hätte er den ersten Satz noch im Ohr. Etwas schneller wäre das zu erkennen gewesen, hätte der erste Satz geendet mit:
„..., sicher nicht weniger als eine Abweichung sein.“
Schön wäre er immer noch nicht, immerhin richtig. Und wenn es keine Schlamperei ist, dann muss es Verwirrspiel sein. So viel Sprachverstand erwarte ich von einem Dichter, und ja, sogar von einem Schriftsteller.

Nach der Vorbemerkung wissen wir nun, dass der Redner mit seinem Auftritt – angesichts der Zeiten – der Not gehorcht und nicht etwa seiner Neigung folgt.
Und wie macht er das?
Er zitiert einleitend den zentralen Passus aus Kants Schrift Was ist Aufklärung? mit dem berühmten: Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!
Sein eigener Text beginnt mit dem Satz:
„Da stehen wir nun heute in einer Gegenwart und müssen uns entscheiden, ob wir uns bei dem, was in unserem Land geschieht, den Wahlspruch der Aufklärung zu eigen machen oder nicht.“
Da ist es wieder, dieses Ausstopfen des Satzes, um einem dünnen Gedanken Gewicht zu geben.
Wie steht man „in einer Gegenwart“? Und dann auch noch „heute“?
Könnte man heute auch in einer Vergangenheit stehen?
Und müssen wir uns nicht immer entscheiden, ob wir uns unseres Verstandes bedienen oder nicht?

Zum Beispiel, wenn wir eine Rede von Herrn Bernig hören oder, wie in meinem Fall, den „leicht überarbeiteten“ Text derselben lesen. Meinem Verstand jedenfalls fallen Sätze auf wie dieser:
„Das politische Milieu und das journalistische Milieu sind in einer ideologischen Kernschmelze eine Verbindung eingegangen.“
Die Perfidie resultiert daraus, dass weder die angeführten Milieus (die ja offenbar etwas anderes meinen als einfach Politiker oder Journalisten) mit einer konkreten Bedeutung verbunden werden, noch der Versuch gemacht wird zu sagen, was „ideologische Kernschmelze“ meint. Gleichwohl macht die Wortwahl klar, hier ist von einer schmutzig-asozialen („Milieu“) und dabei kreuzgefährlichen („Kernschmelze“) Sache die Rede.
Es sind solche Sätze, die auf die Bedeutung der Wörter (Denotation) verzichten und ganz auf deren Färbung (Konnotation) setzen, die den Verstand umgehen und stattdessen Gefühle ansprechen. Und solcherart Sprachgebrauch nenne ich manipulativ. Erst recht, wenn er unter dem Mantel der Aufklärung daher kommt und vorgibt, sich an den Verstand zu wenden.
Unscharfe Semantik, das Antippen von Reizwörtern, irreführende Grammatik, schwache Kohärenz des Textes dürften bei jemandem, der die Sprachkompetenz in der Berufsbezeichnung führt, kein Zufall sein. Auf ein Versehen kann sich Herr Bernig nicht herausreden. Er will es so und er meint es so.
Noch ein Beispiel.
Wir lesen: „Das konzertierte Agieren von Politik und Produzenten der veröffentlichten Meinung im neu entstandenen politisch-medialen Komplex hat zur Folge, dass diese Akteure ein Klima geschaffen haben, in dem die Demokratie selbst angegriffen wird.“
Genau gelesen lässt der Satz offen, wer die Demokratie angreift, legt aber gleichzeitig nahe, dass es die genannten Akteure sind. Welche Lesart dann auch im folgenden Absatz bekräftigt wird, wenn auch wieder quasi aus der Deckung heraus.

Genug davon! So viel zu sprachlichem Niveau und Seriosität der Rede. Sehen wir uns noch die wesentlichen Thesen der Rede an und wie sie argumentativ gestützt werden.

Die zentrale These scheint zu sein: Politik und Presse sind kulturvergessen und wollen Deutschland und deutsches Volk nicht nur begrifflich, sondern auch de facto abschaffen und durch „Bundesrepublik“ und (Multikulti-)„Bevölkerung“ ersetzen. („Umvolkung“ heißt wohl das entsprechende Schlagwort.)
Diese These zu stützen, verwendet der Redner mit lockerem Bezug zwei Unterthesen, in denen er ausführt, wie Politik und Medien seiner Meinung nach dabei zu Werke gehen.
Zum Ersten nämlich setzten sie ihre falsche Deutung der Welt mit Macht durch und unterdrückten abweichende, das meint: richtige Deutungen.
Zum Zweiten „machte sich die Bundesregierung erst einmal in Deutschland daran, die Generation der hier ansässigen 20- bis 30-Jährigen grundlegend zu verändern. Sie tut dies unter der formelhaft wiederholten Beschwörung von der „Alternativlosigkeit“ der Aufnahmepraxis und von der „Integration“. Dieser faktische Veränderungswille zielt ab aufs Ganze, aufs Totale und ist mithin erneut eine Form totalitären Denkens. Es geht um totalen Umbau, um eine im obrigkeitsstaatlichen Duktus verfügte Umgestaltung unseres Gemeinwesens. Womit ließe sich das wirkungsvoller erreichen als in der Umgestaltung dessen, was sich in einem historischen Überlieferungsfeld und Sinnzusammenhang als Volk bezeichnet?“

Bernig treibt einigen Aufwand, um zu zeigen, wie irrational die Regierung Merkel einer falschen Moral und einer krankhaften Hybris folgt und letztlich das Volk abschaffen muss, um Widerstand auszuschalten. Er zählt auf, gegen wen sich die Regierung stellen muss, nämlich gegen das Volk, die Nachbarländer, die EU. Er malt die Folgen der unterstellten Bio-Politik in dunklen Farben und verweist darauf, dass diese Politik aus demselben Brunnen des Bösen schöpfe wie die „scheinbar so ferngerückten totalitären Denkformen des 20. Jahrhunderts“. Den entscheidenden Nachweis allerdings, dass dies alles auch gewollt und geplant ist, den bleibt er schuldig. Stattdessen vertraut er auf eine Variante des naturalistischen Fehlschlusses, bei dem unzulässiger Weise von einem Sein auf ein Sollen geschlossen wird: Der Redetext impliziert, dass alles, was er beschreibt, auch gewollt wird. Das ist heute noch genauso falsch wie zur Zeit David Humes.

Wie belegt er den Missbrauch der Deutungsmacht durch Medien und Politik? Und wie rückt er ihn gerade?
Er schreibt mit Bezug auf die Silvester-Ereignisse 2015 in Köln: „In der Tat erfolgte sogleich der Griff nach der terminologischen und inhaltlichen Deutungshoheit. (Was genau ist der Unterschied? W.M.) Nachdem die Verheimlichungsversuche der Medien und Behörden ans Tageslicht gezogen worden waren, beeilte man sich, von einer ‚neuen Form der organisierten Kriminalität‘ zu sprechen.“

Das ist in Bernigs Augen ein absichtsvoller Käse, denn in Wirklichkeit gehe es um den Krieg der Kulturen. Die in seinem Verständnis richtige Beschreibung geht so: „Wenn sich 1000 arabische Männer organisieren – militärisch gesprochen ist das mindestens Bataillonsstärke – und einen derartigen Angriff ausführen, dann ist das nicht mehr mit der Sprachregelung von einer neuen Form der ‚organisierten Kriminalität‘ zu fassen, dann macht diese Sprachregelung vielmehr deutlich, auf welche Weise die Wahrnehmung von Realitäten verweigert oder verschleiert wird.“

Von einer Sache zu sprechen heißt, diese Sache zu deuten. Es gibt kein Sprechen ohne Deutung und Bernig weiß das selbstverständlich. Er setzt seine Deutung gegen die der anderen, wie er sie darstellt. Das ist sein gutes Recht. Allerdings macht er sich nicht die Mühe darzulegen, wieso und in welcher Hinsicht seine Deutung angemessener ist als die angebliche Deutung der Regierenden.
Stattdessen greift er zu kriegerischen Worten wie „Angriff“ und „Bataillon“ und behauptet, 1000 Männer hätten sich organisiert. Warum diese Darstellung treffender sein soll als die offizielle, kann ich nicht erkennen. Um sich dennoch zu retten, greift er einmal mehr zu einem rhetorischen Trick, indem er setzt, die anderen sprächen von einer Verabredung, während er die Realität schildere. Der Trick ist alt und im Grunde blöd. Vorgetragen wird er allerdings im Brustton der Überzeugung, was den Verdacht weckt, hier schickt einer Sturmgeläut in den Echoraum des Dresdner Theaterplatzes, von wo Kriegsgeschrei widerhallt.

Nach alldem wage ich es, mich meines Verstandes zu bedienen und folge Paulus, wo er sagt: Prüfet aber alles und das Gute behaltet! Von dieser Rede behalte ich die Kant-Zitate.

Mit Verlaub, Herr Bernig, Sie sind eine völkische Socke!
Und das meine ich durchaus abwertend.

 

 

 

 

 

Rede von Kathrin Oertel auf der Pegida-Demo
am 12.1.2015 in Dresden
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Redekritik 

Wer den Nebel einfangen will, steht vor einem mühseligen Unterfangen.
Dieser Satz ging mir durch den Kopf, seit ich mich mühte, zu der Rede begründete Urteile zu finden. Zu sehr verlockten der holprige Vortrag, die Inkohärenz und Unschärfe des Textes sowie die Widersprüchlichkeit der Aussagenzu Spott und Pauschalurteilen.

 Lange habe ich im Text nach Aussagen gesucht, an denen ich die Botschaft der Rednerin festmachen könnte, jetzt bin ich zu dem Schluss gekommen: Es gibt sie nicht. Die Rede hat keinen gedanklichen Kern. Sie will in der Sache nichts bewegen. Sie will nicht einmal sagen, um welche Sache es ihr geht.
Das hat sich seit der Runde bei Günter Jauch verändert, seit Jens Spahn (CDU) Frau Oertel zu der Erkenntnis verholfen hat, dass sie ja eine Idee bräuchte, wie der nächste Schritt aussehen sollte, weil man ja sicherlich nicht ewig auf der Straße herumlaufen wolle. Seither will Pegida das Gespräch mit der Politik,heißt es.

 Aber, bleiben wir beim Thema:
Welches Ziel hat die Rede?
Nun, sie schwört die Versammelten auf die Gemeinschaft ein, vermittelt das wärmende Gefühl, unter Gleichgesinnten geborgen zu sein. Dazu braucht man keinen erkennbaren sachlichen Gehalt. Viel dienlicher zu diesem Zwecke sind Bedrohungen, selbst wenn sie sehr abstrakt daherkommen und womöglich gar nicht existieren. Es genügt, wenn sie Angst machen. 
An dieser Stelle trifft Frau Oertel nun eine seltsame Wahl: Sie stellt die Meinungsfreiheit der Demonstrierenden als gefährdet, ja sogar als faktisch eingeschränkt dar. Das Thema zieht sich durch die ganze Rede beginnend mit der Aussage, die Demonstrierenden würden „ins falsche Licht gerückt“ über „Meinungsfreiheit des Staates“ bis zur Suada gegen Roland Kaiser. Höhepunkt ist ihre Frage an die Demonstranten: „Habt ihr das Gefühl, dass es eine Meinungsfreiheit gibt?“

Allerdings – und das ist hier entscheidend – gibt sie an keiner Stelle einen Beleg dafür, von einer staatlichen Stelle an der Äußerung ihrer Meinung gehindert worden zu sein. Sie versucht es nicht einmal.
Damit ist klar: Sie will ihre Meinung nicht nur ungehindert und ungestraft äußern können (Das wird durch die Meinungsfreiheit garantiert.), sondern eben auch unwidersprochen.
Dieser Anspruch ist totalitär, denn wie will sie verhindern, dass ihr widersprochen wird, wenn nicht mit Machtmitteln?
In der jüngeren deutschen Geschichte wurde dieser Anspruch zwei Mal durchgesetzt. Die DDR hat sie nicht im Sinn, das passt nicht zu ihrer Diktion im Ganzen und auch nicht zu der ausdrücklich ablehnenden Erwähnung der DDR an anderer Stelle der Rede.
Was bleibt also?
Der Verdacht auf Sehnsucht nach der anderen Diktatur. Deren Sprache blitzt denn auch immer wieder auf in der ansonsten wolkigen Rede. Ich rede von den deutlichen Anleihen bei der LTI, der Sprache des Dritten Reiches. In dieser LTI kannte sich ein Dresdener bestens aus. Deshalb lasse ich ihm an dieser Stelle Platz für Antworten.

Frau Oertel spricht vom „etablierten System“.
Klemperer schreibt in LTI: „Es gibt das Kopernikanische System, es gibt mancherlei philosophische und mancherlei politische Systeme. Wenn aber der Nationalsozialist ‚das System‘ sagt, so meint er ausschließlich das System der Weimarer Verfassung.“ (LTI, S.105)

 Oft ist die Rede vom „Volk“, vom „gemeinen Volk“ sogar.
Klemperer am 10. April 1933: „‘Volk‘ wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen, an alles gibt man eine Prise Volk ...“ (LTI, S.36)
Der Gegenbegriff zum „Volk“ dürften die intellektuellen Eierköpfe, die kein Verständnis für das gesunde Volksempfinden haben, das die Rednerin befragt, wenn sie ruft: „Habt ihr das Gefühl von Meinungsfreiheit?“

 Zum Dritten ist da der Gebrauch der höhnisch-ironischen Sprechweise. Deutlichstes Beispiel dafür ist die Vortragsweise des Satzes „Diese Sätze spricht Frau Orosz, ihres Zeichens Oberbürgermeisterin von Dresden“. 
Im Geschriebenen wird dieser Tonfall durch Anführungszeichen markiert.
Klemperer: „Aber in der LTI überwiegt der ironische Gebrauch (derAnführungszeichen) den neutralen um das Vielfache. Weil eben Neutralität ihr zuwider ist, weil sie immer einen Gegner haben, immer den Gegner herabzerren muss.“ (LTI, S.79)

 Wieder einmal zeigt sich, dass eine Rednerin sich nicht verstecken kann, nicht verbergen kann, wes Geistes Kind sie ist. 
Sage später niemand, er habe nicht gewusst, hinter wem er hergelaufen ist.

 Die Zitate stammen aus

Victor Klemperer: LTI – Notizbuch eines Philologen, Verlag Philipp Reclam jun.Leipzig 1982

 

SPIEGEL-Gespräch von Ulf Schneider (Chef der Fresenius-Kliniken) in der Ausgabe 29/2014 

 Politische Reden sind per se öffentlich, wenn nicht gerade in den Hinterzimmern die Messer für den Königsmord gewetzt werden, deshalb sind sie im allgemeinen leicht zu erreichen. Reden von Wirtschaftsbossen an die Belegschaften kann ich nicht mitschneiden, schon gar nicht, ohne die Erlaubnis des Redners. Von daher habe ich zwar ab und an Gelegenheit, solche Reden zu hören, aber nicht die Möglichkeit, meine Urteile mit dem Text oder der Performance des Redners zu belegen. Bleiben nur veröffentlichte Äußerungen der Kandidaten. Die sind selbstverständlich keine originalen Reden, weil die Texte von den Rednern im Nachgang noch autorisiert werden. Der Text enthält folglich nur, was der Redner für angemessen, unwiderleglich oder wenigstens unanstößig hält. Andererseits wissen wir bei einem freigegebenen Text:  Der Redner hat sich nicht verplappert, der will das so. Genau so.

 DER SPIEGEL veröffentlichte in der Nummer 29/2014 ein Interview mit dem Chef von Deutschlands größtem Klinikkonzern, den Helioskliniken. Der gibt einiges vom Denken einer Wirtschaftselite preis, das einerseits eine kleine Empörung wert, andererseits aber offenbar salonfähig ist.

Fangen wir mit dem Anfang an: Auf die Frage, wann er zuletztin einer Klinik auf Station gewesen sei, antwortet Ulf Schneider (48):
"Im Februar vergangenen Jahres habe ich als Pfleger in einem unserer Häuser am Schweriner See gearbeitet. Ich mache das regelmäßig und verbringe eine Schicht in der Klinik. Den nächsten Termin habe ich schon verabredet, das wird im September sein, aber in einem anderen Haus."
Damit soll wohl gesagt sein, er wisse aus eigener Anschauung, was da unten läuft. Dem dient in erster Linie das Wörtchen "regelmäßig". Aus Gründen der Glaubwürdigkeit werden dann noch zwei konkrete Zeiträume genannt, in denen die Besuche stattfanden bzw stattfinden sollen. Dabei haben der Sprecher und seine PR-Berater  wohl auf die Faulheit der Leser spekuliert, die "Februar" und "September" lesen und dabei an ein halbes Jahr Abstand denken.
"Mensch", soll der Leser denken, "ganz schön oft. Der hat das Ohr echt an der Masse!"
Tatsächlich liegen zwischen den Terminen eineinhalb Jahre. 
Als ich voreineinhalb Jahren in Dresden im Stadion saß, spielte Dynamo noch in der zweitenLiga – tempora mutandur!

 Frage: "Reden die Schwestern und Pfleger (bei diesenBesuchen, W.M.) offen mit Ihnen?"
Schneider: "Ja, die Menschen sind mir gegenüber offen. Es geht um das Leben auf der Station, um Belastungen und darum, was man verbessern kann. Es geht aber auch einfach darum, die Arbeit zu erledigen. Wir reden da nicht die ganze Zeit."
Einst fragte man den Wolf, ob er mit den Schafen über deren Nöte rede.
"Selbstverständlich", antwortete er, "jeden Freitag; ganz offen und auf Augenhöhe."

 Der Rest des Interviews besteht rhetorisch im Ringen um die Agenda des Gesprächs und auf Seiten des Konzernchefs um die Durchsetzung des betriebswirtschaftlichen Betrachtungswinkels. Wie man das macht, zeigt er gleich nach dem bemerkenswerten obigen kommunikativen Offenbarungseid.
"Spiegel: Dann haben Sie sicher bemerkt, dass ihre Leute immer mehr Arbeit erledigen müssen?
Schneider: Die Frage ist doch, wie man in Zeiten knapper Budgets möglichst eine optimale Krankenversorgung erreicht. Als Unternehmen müssen wir die Mittel zur Verfügung stellen, um das zu erreichen. Aber wir müssen auch Effizienz einfordern, da muss man einen vernünftigen Kompromiss erreichen."
So redet man an einer Frage vorbei und versucht zugleich, eine andere Frage in den Fokus zu rücken. Dazu eignen sich Formulierungen am besten, die auf breite Zustimmung hoffen können.  Die heißen in der Rhetorik Gemeinplätze und ausschließlich aus solchen besteht dieAntwort. Wichtig ist bei solcher Taktik die Vernachlässigung von Randbedingungen, Nebenwirkungen und anderem lästigen Zeug.

Wie wichtig ist einem Sprecher die optimale Krankenversorgung, wenn er in Zeiten knapper Budgets von seinen Kliniken 15 Prozent Rendite erwartet, wo andere um die 10 Prozent anpeilen?
Wieder antwortet er mit Fertigteilen: "Es  gibt keinen Grund, wieso ein Haus Verluste machen sollte. (Den Teil der Frage mit den 10 Prozent ignorieren wir mal lieber, klingt sonst nicht so zwingend. W.M.) Das deutscheGesundheitswesen mit seinem Fallpauschalensystem erlaubt es jedem Klinikbetreiber, einen Gewinn zu erwirtschaften, wenn er sich an den Bedürfnissen der Region orientiert, gute Qualität liefert und effizient arbeitet. Warum müssen wir uns für unser Gewinnstreben rechtfertigen?"
Formulierungen, die vom Betreiber einer Autowerkstattstammen könnten und die den heutigen Reparaturbetrieb Krankenhaus kennzeichnen.
Warum also muss er sich rechtfertigen?

Weil der Fehler schon im Ansatz steckt. Schneider formuliert, wiederum in schönem Manager-Sprech: "Nein, Gesundheit ist keine Ware, sie ist ein hohes Gut. Dennoch gilt: Wirtschaftlicher Erfolg ist eine notwendigeVoraussetzung für Investitionen in gute Medizin."
Den ersten Satz sagt er, weil sich das so gehört. Und um diesen Aspekt als abgearbeitet bei Seite legen zu können und stattdessen zum "Kern der Sache" durchzustoßen.
Bliebe man beim ersten Satz und wäre die Gesundheit ein hohes Gut, warum verzichtet man dann nicht auf – sagen wir — 5% Rendite, um sie für dieses hohe Gut einzusetzen?

Aber reden wir vom wirtschaftlichen Erfolg. Den braucht er, um in gute (Apparate-)Medizin zu investieren; nicht etwa in gute medizinische Betreuung der Patienten.
Ich fürchte, der Mann kann diese beiden Dinge nicht mehr unterscheiden. 
Oder — noch schlimmer — er will es nicht. Oder er hält diese Sicht für gerechtfertigt,für akzeptiert und — horribile dictu — einzig angemessen.

Man muss lesen, wie er sich in seinem Element fühlt, sobald er abstrakt von Produkten und Märkten reden kann. Hier schwimmt der Fisch im Wasser. Aber mir reicht es. Gehen Sie in die nächstgelegene öffentliche Bibliothek und lesen Sie selbst!

 Dresdner Rede von Sibylle Lewitscharoff

am 2.3.2014

 

 

 

Ton und Text der Rede, Text des Offenen Briefes von R. Koall

 Redekritik

Dresdner Reden sind zu lang für eine Redekritik, die ja auf eine Seite passen soll. Hinzu kommt, dass die Dresdner Reden eher vorgetragene Essays sind als Reden im wohlverstandenen Sinne.
Weil sich aber im Falle von Sibylle Lewitscharoff der Blätterwald so dermaßen schüttelt und weil (fast) alle mitreden in der Empörungsrepublik, sehe ich mich gefordert. Geht doch höchste Erregung im Allgemeinen mit niedrigstem argumentativem Niveau einher. 

 Hier nun das Ergebnis:
1. Auf viele Punkte muss ich nicht mehr eingehen, sie sind in dem Brief von Robert Koall klug und abwägend abgehandelt, besonders was die Stimmungsmache und giftige Sprache angeht. Jawohl, Wörter bedeuten etwas und öffentliches Reden ist Handeln und eine Schriftstellerin wird man beim Wort nehmen müssen.

2. Eva Menasse stört sich in der ZEIT daran, dass Frau Lewitscharoff ihre Idiosynkrasien zum Maßstab erhebt und daraus Schlussfolgerungen von einer Tragweite zieht, die weit über die Wände von Lewitscharoffs Wohnzimmer hinausgreifen. Auch dieser Artikel erspart mir viele Zeilen.  Jawohl, Privates soll privat bleiben, solange es lediglich biografisch begründet ist. Bevor es in die Öffentlichkeit ausgelassen wird, sollte es auf Relevanz, Haltbarkeit und Wirkung geprüft sein.

 Relevanz und Haltbarkeit – dem aufmerksamen Leser wird es aufgefallen sein – sind die Eigenschaften eines gültigen Argumentes. Wie steht es damit in Lewitscharoffs Text?
Nun, der fällt zu großen Teilen unter „tendenziöses Drumherumgerede“ nach Arne Naess (ders.: Kommunikation und Argumentation, Scriptor Verlag Kronberg/Ts. 1975).
Da stoßen Sätze schon mal in seltsamer Parataxe aneinander: „… bei mir ist das Thema mit etlichen Schrecknissen behaftet, die meine Familie über ihre Kinder verhängt hat. Mein Vater war Gynäkologe.“ ?????
Na, wenn das nicht schrecklich ist. Und: Wer durch solch harte Schule ging, wird wohl etwas von Geburtshilfe und Reproduktionsmedizin verstehen. Auf demselben Wege kommen in der Werbung Zahnarztfrauen zu ihrer Kompetenz.
In den gleichen Zusammenhang gehört die häufige Verwendung des Edel-Wortes„Machination“. Weil es so schön raunt?

 Wie gut sind die Argumente?
Um das zu entscheiden, brauchen wir zuerst die These, welche von den Argumenten gestützt werden soll. Sie ist wohl in dem Satz zu sehen, der beinahe beiläufig fällt: 
„Ganz einfach, mein Schicksal liegt in Gottes Hand und nicht in meinen Händen.“
Als Seinsaussage ist das tautologisch und bedarf keiner Argumentation. Aber Frau Lewitscharoff versteht diesen Satz offenbar normativ, und ergänzt im Geiste: 
„Und wenn wir uns - an Anfang und Ende des Lebens – einmischen, riskieren wir das Heil.“

Legt man diese These zu Grunde, dann sucht man stichhaltige Argumente im Text vergebens. Was stattdessen vorgebracht wird, sind Aussagen über sehr persönliches Empfinden: „Aber über das eigene Leben weitreichend verfügen zu wollen, kommt mir wie ein Frevel vor.“
Mir nicht, kann ich dazu nur sagen. So etwas ist meinungsstark, aber leider auch geistesschwach. Ich würde schon gern wissen, ob es ein Frevel ist
Ein bisschen Anstrengung des Begriffs sollte nicht zu viel verlangt sein. Findet aber nicht statt. Lieber erklärt die Autorin kurzschlüssig ihr Empfinden als Herrgotts-Winkel-Christin für öffentlich relevant und starke Wörter rechtfertigend.

Was ihr Christentum nun eigentlich sagt, bleibt allerdings in sich widersprüchlich. 
Einmal sagt sie: 
Für seine Sünden bestraft zu werden und sterben zu müssen, ist im Gedächtnis der westlichen Welt stark verankert und … nicht auszurotten.“
Dem folgt Minuten später: 
„Auch wenn … seine Leiden … nicht als antwortende Strafe für seine Verfehlungen gelten dürfen.“
Ja, was denn nun, ist man geneigt zu sagen.

 Und noch ein Auszug: „Wenn es nichts Höheres als uns gibt, bleibt auch das innere Wissen um uns klein, weil wir uns selbst nicht erkennen können. Es ist ein großer Trugschluss zu glauben, dass wir zur Selbsterkenntnis wirklich durchgreifend fähig wären.“
Nicht einmal dann, wenn uns das Höhere hilft, per Offenbarung zum Beispiel? Es ist ein großer Trugschluss zu glauben, mit diesen zwei Sätzen sei abseits des Herrgottswinkels etwas von Belang gesagt.

 Performativ ist der Orgelton hervorzuheben, in den Frau Lewitscharoff offenbar immer verfällt, wenn sie ein Mikrofon vor der Nase hat. Sie spricht nicht einfach ihre Sätze möglichst sinnfällig, nein, sie spricht im Subtext den Hinweis mit, dass es sich um Werke handelt. Entsprechend ausgestellt künstlich hört es sich an.
Auch das ein Beleg, dass sie meinte, was sie sagte.

 

 

Rede von Peer Steinbrück
auf dem Sonderparteitag der SPD am 14.4.2013

 

 

 

Video der Rede

 Redekritik
Ist es wirklich schon wieder so weit?
Vor vier Jahren nahm ich mir in dieser Rubrik die Rede vom SPD-Kanzlerkandidaten Steinmeier vor. Seither hat sich die Lage kaum gebessert,es läuft immer noch nicht so gut für die SPD.
Jetzt also Steinbrück, der nach missglücktem Start zeigen wollte, dass dennoch mit ihm zu rechnen ist. Dies läuft, wie bei jedem Wahlparteitag auf zweierlei hinaus:
a) Dem Wahlvolk Gründe zu geben, die SPD zu wählen.
    Oder doch wenigstens, ein Thema zu (be)setzen.
b) Dem SPD-Volk Gründe zu geben, an den Kandidaten zu glauben und sich im
    Wahlkampf  zu zerreißen.

Um es dem Kandidaten gleich zu tun und das Ende vorweg zu nehmen: Steinbrück tut sich schwer damit, das Auditorium des Parteitages mitzureißen. Seine immer wieder aufscheinende Selbstironie ist dafür wenig geeignet. Dafür ist sie zu verkopft. Schon sein Scherz in der Einleitung fällt ins Leere, wenn er sagt: „Damit habe ich euch auf diesem Parteitag (dem Nominierungsparteitag in Hannover) am 9. November nach Beendigung meiner Einleitung nach 40 Minuten ziemlich erschreckt.“
Dagegen entsteht Resonanz nach dem Satz „Ich will Kanzler der Bundes-republik Deutschland werden!“
Solche Sätze wollen die Delegierten hören.

Zwei Absätze später schafft sich der Kandidat die Schwierigkeit selbst, mit der er im Weiteren zu kämpfen hat. Er sagt: „Dem Land geht es gut.“ Danach muss er nämlich mit einem „Aber“ fortsetzen, und genau so zwingend muss er sich anschließend in das Gestrüpp der Differenzierungen begeben. Das ist weder mitreißend, noch überzeugend, denn er hat jedes Detail unter die Überschrift gesetzt: Aber dem Land geht es gut. Von da hält es schwer, den Bogen zu einem inspirierten und womöglich elektrisierenden Gegenentwurf zur Regierungskoalition zu schlagen.
Sehen wir uns weitere Schlüsselsätze näher an.
„Und deshalb, liebe Genossinnen und Genossen, werden wir vieles besser, aber noch mehr anders machen müssen, wenn wir die Regierung stellen.“
Man achte auf Feinheiten der Formulierung. Was z.B. ist der Unterschied zwischen „besser machen“ und „anders machen“? Dann ist da noch das Wörtchen „müssen“. Es wäre nicht nötig gewesen, hat sich offenbar eingeschlichen. Gleichwohl setzt es den ganzen Gedanken indirekt in den Konjunktiv, so als wüsste der Redner nicht genau, was und wie gemacht werden soll.
„Deshalb, liebe Genossinnen und Genossen, ‚Abwahl‘ lautet die Parole bei dieser Bilanz.“
Irgendein Spin Doctor hat da wohl eine Wechselstimmung im Wahlvolk aus dem Kaffeesatz gelesen. Mensch, Steinbrück, möchte man entgegenhalten, schon vergessen: Dem Land geht es gut!
Er kommt und kommt nicht aus der Defensive.
Das liegt auch daran, dass sich Steinbrück generell zu sehr auf das Handwerk konzentriert. Das kann er, da ist er stark, vor allem wenn es um Finanzpolitik geht. Aber es ist zu wenig. Da helfen auch die beigebrachten Zeugen aus dem Volke, Zeugen für Irgendwas, nicht weiter.

Aber zurück zu den Schlüsselsätzen.
Nach einem Versuch, sich konzeptionell von der Union abzusetzen, folgt der Satz: „Wir müssen die politische Kraft sein, die auf nationaler Ebene, aber im Zusammenwirken selbstverständlich auch auf internationaler Ebene, diesem entfesselten Kapitalismus Spiel- und Verkehrsregeln entgegensetzt und damit Exzesse vermeidet.“
Da ist es wieder, dieses „müssen“, das immer den Eindruck vermittelt, die SPD sei noch nicht so weit. Und das bei einer Floskel, die an Beliebigkeit kaum zu überbieten ist. Frau Merkel würde diesen Satz für einen von ihren halten.

Zum Schluss der Rede dies: „Noch 161 Tage um zumobilisieren. Wenn wir mobilisieren, dann gewinnen wir. Besinnen wir uns auf unsere Kraft, liebe Genossinnen und Genossen!“
Wen mobilisieren und wofür?
Ach, alte Tante SPD, wie bist du müd!

Fazit: So technokratisch und gleichzeitig ungenau ging es wahrscheinlich selten zu auf einem Wahlparteitag. Gutes Handwerk mag im Politik-Alltag wichtiger sein als Charisma, wie man aus dem Vergleich von Merkel und Obama schließen könnte, für die Schärfung und Vermittlung einer Position reicht es nicht. Vieles ließe sich noch sagen über fehlende oder tautologische Argumentation, formal eingesetzte rhetorische Figuren und vorgeführte Privatleute, über die Performance des Redners. Entscheidend bleibt jedoch, dass die einprägsame und überzeugende Botschaft fehlt.
 

 

 

 

 

 

 

Rede eines Managers zum Jahresanfang

Schon lange will ich einmal eine Rede besprechen, mit der sich ein Konzernlenker an die Belegschaft wendet. Leider hatte ich, der ich für den Mittelstand arbeite, noch keine Gelegenheit, einer solchen Rede beizuwohnen, also gleich gar nicht, sie aufzuzeichnen. Jetzt hat mir der Dokumentarfilm „Work hard, play hard“ diese Gelegenheit eröffnet.
Leider gibt es von der Rede kein Video im Internet. Wer sich also ein Bild von Rede, Redesituation und Reaktionen der Zuhörer machen will, der muss sich den Film ansehen. Das lohnt sich ohnehin.

Was ist zu sehen und zu hören?
Soundcheck im Lichthof des neuen Unilever-Gebäudes in der Hamburger Hafencity. „One, two, .., der Rest geht in einem Rückkopplungspfeifen unter, wie man es von Rockkonzerten kennt. Dann füllen schmissige Gitarrenriffs den weiten Raum. Wie auf Kommando  kommen Leute aus den Bürotüren auf die zum Lichthof hin offenen Flure. Sie stellen oder setzen sich an das Geländer, schwatzen und lachen. Einige bringen Kaffeebecher mit, andere setzen ihre Gespräche fort, wieder andere stehen, auf das Geländer gestützt, einfach nur wartend herum.
Auf einer Brücke, die den Lichthof in halber Höhe überspannt, steht ein Mann im Anzug mit Mikrofon in der Hand. Weit weg von seinen Zuhörern und einsam steht er dort, wie ein Tragöde im antiken Amphitheater, und beginnt zu sprechen:
„Guten Morgen!
Herzlich willkommen bei diesem besonderen Marktplatz!
Zum ersten Mal das Allerwichtigste: Ich wünsche allen, für jedes Team hier und alle Leute zusammen, ein sehr erfolgreiches Jahr 2010!2009 ist vorbei, wir haben viel erreicht.
Aber jetzt sind wir bei 2010 angekommen und wir haben letzten Dezember gesprochen über, was das bedeuten wird. Wir haben eine Unilever-Vision auf globaler Ebene. Mit einem Kompass, was bisher – ich sag mal - noch eine Seite Papier ist; aber es wird immer lebendiger, das kann ich jetzt schon sagen, innerhalb dieses Jahres. So,das heißt, wir wissen, was wir erreichen wollen; mit einer Kultur, einem Spirit und einer Mega-Wachstums-Mentalität: Wir wollen im Markt gewinnen. Das heißt auch, auf globaler Ebene das Geschäft verdoppeln. So insgesamt: Sehr ambitiös.
Insgesamt wissen wir, was wir erreichen wollen. Gemeinsam.Jeder von uns in seinem workplan. Jeder von uns in seinem Team.
Und wir gemeinsam, wir sind Unilever.
Go for it!“

Anmerkung der Fairness halber
Deutsch ist nicht die Muttersprache des Redners. Deshalb ist der öfters ungelenke Ausdruck nicht Gegenstand der Kritik.  Was jeweils gemeint ist, ist jedoch völlig klar. Und dies muss kritisierbar bleiben.


Redekritik
Manager-Sprech in der Hafencity

Einmal angenommen, dass nicht der Sprecher schon die eigentliche Botschaft ist, insofern er aus olympischen Höhen zu den Sterblichen herabgestiegen ist und sie auf diese Weise in seine Aura einschließt, dies also vorausgesetzt: Welches Redeziel kann man aus dem Text herausspekulieren? Um in der Sprache der Rede zubleiben: Der Redner will den Teamgedanken und den Leistungsgedanken in der Belegschaft stärken.
Wow! Was für ein Anspruch!
Und uff! Wie hölzern ausgedrückt!
Aber schon kommen mir Zweifel und ich korrigiere: Der Redner will den Leistungsgedanken betonen. Damit sein Anliegen nicht zu hart klingt, wird es weich eingepackt in menschelnde Sätze, in denen „wir“ und „Team“ die Hauptrollen übernehmen. „Eingepackt“ ist durchaus wörtlich zu nehmen: Der lange Mittelabschnitt dreht sich um Leistung, die kurzen Absätze davor und danach ums Wir-Gefühl.

Sprachlich kommt der Redner an keiner Stelle von der Meta-Ebene weg.
Zwei Beispiele dazu:
Der Redner sagt: Wir haben eine Unilever-Vision auf globaler Ebene.“
Deren Inhalt allerdings streift er mit keiner Silbe. Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur ein Jünger seine Sachen gepackt hätte und Jesus gefolgt wäre, hätte der gesagt: „Ich habe eine Vision auf globaler Ebene.“
Ein anderer entlarvender Satz schließt sich daran unmittelbar an:
„Mit einem Kompass, was bisher – ich sag mal - noch eine Seite Papier ist; aber es wird immer lebendiger, das kann ich jetzt schon sagen, innerhalb dieses Jahres.“
Was für ein Manöver! Im ersten Satzteil deutet die Wirklichkeit ihren Widerstand an, der aber im zweiten – sozusagen prospektiv – beiseite gewischt wird. Ja, so ist das, wenn man zum Erfolg verdammt ist.

Zum Schluss zu der Frage: Hat es funktioniert?
Da gibt es nur ein klares Nein. Auch ein big Boss schafft mit solchen Phrasen nicht, das Limbische System seiner Zuhörer zu erregen, jenen Hirnbereich, der für Emotionen zuständig ist. Die Leute hörten in der Mehrzahl gelangweilt zu, wenn überhaupt. Der Beifall war bestenfalls höflich. Im Stillen dachten wohl die meisten „Bohica!“, Bend over here, it comes again!

PS.
Am meisten wundert mich, dass der Redner zugestimmt hat, die Rede im Film zu veröffentlichen. Das kann ja nur heißen, er glaubt, etwas gesagt zu haben.
 

 

 

 

 

 

Reden von Ann Romney und Michelle Obama auf den Conventions 2012

 

 

 

Video von Ann Romney

Video von Michelle Obama

 Redekritik

Zweifacher Kitsch-Alarm – Lobreden für die Kandidaten

Die rednerische Aufgabe der Ehefrau des Kandidaten beim Nominierungs-parteitag ist hoch ritualisiert. Die Muss-Elemente der Rede sind zahlreich und parteiübergreifend dieselben. Die Rede „kommt aus dem Herzen“, sie betont die Familie und dass der Kandidat ein guter und geliebter Mensch ist und immer noch der nette Typ von nebenan. Und natürlich, dass frau stolz ist auf „dieses Land“ und so weiter und so weiter.
Der Rahmen ist eng, die Zielrichtung klar. Aufgabe der Damen ist es, die weiblichen Wähler zu gewinnen, den Kandidaten als Familienmenschen zu zeigen, zu zeigen, dass er der Richtige ist. Dass er Herz hat. Da wird nichts Neues gesagt. Die Zuhörer sollen bewegt und erhoben werden.
Die Zuhörer sollen „Ja!“ rufen und das mit steigender Inbrunst. Die Frauenreden vor Parteigängern, aber die Gesamtinszenierung aus Rede und geplantem Publikumsjubel wendet sich - wie sich von selbst versteht - zugleich an das Wahlvolk.
Das Publikum verlangt von der Rednerin: „Gib mir Gründe, den Kandidaten zulieben. Gib mir Gründe zu glauben, dass meine Unterstützung für ihn richtig ist, im Grunde meine Pflicht als Amerikaner ist. Dass er und ich das Richtige tun.“
Es geht also um Pathos und Glaubwürdigkeit.
Pathos bedeutet, große Worte in den Mund zu nehmen, große Themen anzusprechen, bedeutet Beschwörung der Werte, Aktivierung der Gemeinplätze. Glaubwürdigkeit bedeutet, die großen Worte mit dem Alltäglichen zu verbinden,sie als Leitsterne darzustellen, denen zu folgen sich lohnt.

Den beiden Rednerinnen ist es sehr unterschiedlich gelungen, aus gleichen Zutaten eine mitreißende Rede zu machen.
Ann Romney und ihre Redenschreiber sind gescheitert.
Wer soll ihr glauben, wenn sie die eigentliche Rede eröffnet mit: „Heute Abend will ich nicht von Politik reden und nicht von der Partei. Über viele wichtige Themen werden wir Diskussionen hören; auf diesem Parteitag und den ganzen Wahlkampf lang. Heute Abend will ich zu Ihnen sprechen aus meinem Herzen über unsere Herzen.“  So naiv sind nicht einmal die Amerikaner, dass sie einen Parteitag fünfundzwanzig Minuten lang für eine unpolitische Veranstaltung halten.
Der Ton klingt unecht und Romneys Glaubwürdigkeit ist mit diesem Einstieg schon beschädigt. Die Rede „aus dem Herzen“ wirkt so einstudiert und abstrakt, dass sie nicht einmal die auf Enthusiasmus gestimmten Herzen der Republikaner erreicht. Wiederholt eingestreute pseudo-schwungvolle und pseudo-schwesterliche Passagen verschlimmern die Diagnose noch. Man höre sich nur einmal dieses mit dem Mute der Verzweiflung in den Saal gerufene „I love you, women!“ an. Entsprechend flau fällt die Reaktion aus. Das Ganze wirkt aufgesetzt, weil Romney selbst dort abstrakt bleibt, wo sie Beispiele bringt oder über ihren Mann sagt: „Er hatte liebevolle Eltern, die ihm feste Werte mitgaben und ihn den Wert der Arbeit lehrten.“ (He had two loving parents who gave him strong values and taught him the value of work.) Trockener geht es kaum.

Das macht Obama anders. Sie zeichnet ihren Vater und Baracks Großmutter als Quellen ihrer Wertvorstellungen, um dies dann einzeln zu aufzuführen.„So haben sie uns aufgezogen. Das haben wir an ihrem Beispiel gelernt. … Wir lernten über Ehrlichkeit und Integrität – dass es auf die Wahrheit ankommt … dass man keine Abkürzungen nimmt oder nach seinen eigenen Regeln spielt … dass Erfolg nichts zählt, wenn er nicht fair errungen wurde.“
Das Kitsch-Niveau Obamas ist mit dem von Romney durchaus vergleichbar. Auch Obama greift so daneben, dass sich sogar amerikanische Intellektuelle die Haare raufen dürften. Da erzählt sie von einem Veteranen,der sein Augenlicht in Afghanistan verlor und der es 100 mal wieder opfern würde, wenn es die Gelegenheit erfordern würde. Oder wenn sie beschreibt, wie der Präsident die Briefe der Bürger liest und sich dann an Michelle wendet mit den Worten: „Du glaubst nicht, was diese Leute durchmachen, Michelle. Das ist nicht recht. Das müssen wir ändern. Wir haben noch so viel zu tun.“ Dabei sieht sie in seinen Augen die Sorge usw.
Das ist hierzulande nicht vermittelbar. Mit dem „Landesvater“ tun wir uns schwer. Die Zeilen über Stalin: „Im Kreml brennt noch Licht. Väterchen arbeitet noch.“ gehen nur als Ironie durch. Trotzdem sage ich als Deutscher: Die Rede war eindrucksvoll.

Was waren die entscheidenden Unterschiede?
Da war zum ersten die zentrale Idee, dass ihr Mann die Werte des amerikanischen Mythos verinnerlicht hat und sich in seiner Politik daran orientiert. „That’s who we are.“
Da war zum zweiten das Story telling. Obama erzählt schlicht von konkreten Personen und Ereignissen. Sie spricht von ihrer Sorge darüber, wie ihre beiden Töchter den Umzug ins Weiße Haus verkraften würden, davon, wie die Karriere von Baracks Großmutter unter der gläsernen Decke stecken blieb etc.
Da war schließlich der Vortrag. Obama zeigte von der ersten Sekunde an, dass sie etwas zu sagen hatte. Das war nicht nur Pflichtaufgabe, sie wollte nicht nur ihren Mann gut dastehen lassen, sie wollte auch politische Positionen vertreten. Das gab der Rede den Schwung, der nicht nur die Zuhörer mitriss. Obama selbst war am Ende der Rede hörbar bewegt.

Fazit: Sowohl Republikanische als auch Demokratische Audienz waren auf Jubel programmiert. Ob der Jubel aber ausbricht wie bei Obama oder im Hals stecken bleibt, wie bei Romney, das hängt dann doch von der Rede ab. Wer also wissen will, wie eine Lobrede geht, der höre sich Michelle Obama an.

 

 

Rede von Bundespräsident Gauck nach seiner Vereidigung am 23. März 2012
 

 

 

Video der Rede 

 

 Redekritik 

Vorschusslorbeeren für seine Rhetorik waren zu hören und kritische Verweise auf eine verengte Themenpalette. Auch Mahnungen, sie im Amt für das Amt zu erweitern. Die Medien wollten endlich einen „richtigen Präsidenten“, die Leute auf der Straße wohl auch. Die Kanzlerin wollte ihn nicht so recht, dann aber doch. Seine Wahl für die meisten eine Formsache. Die Erwartungen hoch.

Obwohl sich Joachim Gauck wohl schon seit einiger Zeit als Institution fühlt, war ihm die Anspannung anzumerken. Man sah: Dieses Parkett war noch ungewohnt. Der Anzug des Amtes wirkte etwas zu groß, sein Inhaber füllte ihn (noch) nicht ganz aus. Wer keinen routinierten Politprofi wollte, dürfte zufrieden gewesen sein. Die Rede verfolgte erkennbar zwei Ziele: Sich als Landesvater darzustellen/zu etablieren und die Themen seiner Präsidentschaft zusetzen.

Der erste Abschnitt der Rede dient dem ersten Ziel und beginnt programmatisch mit der rhetorischen Frage „Wie soll es denn nun aussehen, dieses Land, zu dem unsere Kinder und Enkel einmal sagen sollen ‚unser Land‘?“
Es folgt eine Serie vertiefender Fragen, die allesamt potentielle Bedrohungen ansprechen. Sie bleiben so allgemein, dass sie für eine breite Mehrheit zustimmungsfähig  sein dürften: Oh ja, wir sind bedroht. Uiuiui,die Globalisierung. Usw.
Auffällig an dieser Passage ist der gelangweilte, fast wegwerfende Ton des Redners. Er scheint dieser Fragen überdrüssig. Sie taugen ihm aber als Sprungbrett zu seinem eigentlichen Anliegen. Der Sprung selbst ist eine Doppelfrage. „Viele fragen sich: Was ist das eigentlich für ein Leben, was ist das für eine Freiheit?“
Welcher Zusammenhang zwischen den zunächst aufgerufenen Bedrohungen und der Frage besteht, was das für eine Freiheit sei, bleibt im Dunkeln. Aber der Redner ist jetzt auf spürbar vertrauterem Terrain.
Wieder braucht er einen metasprachlichen Ruck, um auf sein nächstes Thema zu kommen. „Stattdessen – da ich das nicht will – will ich meine Erinnerung als Kraft und Kraftquelle nutzen, mich und uns zu lehren und zu motivieren.“
Nebenbei zeigt der Satz, wie kontrolliert der Redner spricht und wie er schwankt zwischen Predigtton und BWL-Jargon.

Es folgt eine Aufzählung von „Erinnerungsschätzen“, die dafür stehen, dass  es „mehrfach in der Vergangenheit gelungen ist, all die Herausforderungen der Zeit anzunehmen und sie … zu lösen, …“ Im letzten Absatz dieses Redeabschnittes sieht sich der Redner wieder genötigt, sich selbst zu kommentieren: „Der Sinn dessen, dass ich so spreche, ist, dass ich nicht nur über die Schattenseiten, über Schuld und Versagen sprechen möchte. … Das ist kein Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur. Das ist eine Paradigmenergänzung.“
Wer so viel erklären muss, hätte sich besser gleich präzise ausgedrückt.
Umso mehr, wenn sich der Redner als Philosoph um Begriffe bemüht: Das Verhältnis von Freiheit und Gerechtigkeit etwa, oder – noch zentraler – „unser Land“. In solchen Abschnitten legt sich der Redner die Latte selber öfters zu hoch. Das Ergebnis sind dann Substantiv-Ballungen wie diese: „Und wir finden dieses Gemeinsame in diesem unserem Staat in Europa, in dem wir in Freiheit, Frieden und in Solidarität miteinander leben wollen.“ Das sind Schlagworte, mehr nicht.

Rhetorisch am gelungensten sind zwei Abschnitte der Rede, in denen der Redner konkret wird. Zur Frage, wie mit Einwanderern umzugehen sei, findet er die Sätze: „Unsere Verfassung, …, spricht allen Menschen dieselbe Würde zu, ungeachtet dessen, woher sie kommen, woran sie glauben oder welcheSprache sie sprechen. Sie tut dies nicht als Belohnung für gelungene Integration, sie versagt dies aber auch nicht für verweigerte Integration.“
Und dann ist da noch das Bekenntnis: „Nicht nur bei uns, sondern auch in Europa und darüber hinaus ist die repräsentative Demokratie das einzig geeignete System, Gruppeninteressen und Gemeinwohlinteressen auszugleichen.“
Nicht nur an dieser Stelle wird spürbar, dass der Redner diese Republik für die beste aller möglichen Staatsformen hält und in ihr die Voraussetzung sieht für die beste aller möglichen Freiheiten. Das kann man anders sehen, aber es verdient Respekt.

Neben die „philosophische“ Stilebene tritt bei Gauck eine zweite, die vielleicht am besten mit „persönliche“ Stilebene zu benennen ist. Das geht auch schon mal schief, wie im vorletzten Absatz der Rede: „Zum Schluss erlaube ich mir, Sie alle um ein Geschenk zu bitten: um Vertrauen. Zuletzt bitte ich Sie um Vertrauen in meine Person. Davor aber bitte ich Sie um Vertrauen zu denen …“
Potz Donner, Herr Gauck, so viel Subtext in einer einzigen Paradoxie: zu sagen ,ZULETZT um Vertrauen in seine Person zu bitten und es ZUERST zu tun?!

Fazit: Gemessen an den Zielen lautet das treffendste Urteil wohl „bestanden“. Der Redner scheint sich noch an Inhalte und den angemessenen Stil im Amt heran zu tasten. Darüber täuscht auch die gelegentliche - an der Homiletik geschulte - pathetische Wortwahl nicht hinweg, die nicht immer von der Sprechweise beglaubigt wird. Die nächsten Reden werden zeigen, ob das gelingt.

 

 

Rede Benedikt XVI. vor dem Deutschen Bundestag
am 22. 11. 2011

 

Auszüge
aus der Rede

 

  

  

 

 

Redekritik
Schon im Vorfeld der Rede gab es Aufregung. Nicht jeder hielt es für angemessen, dem Repräsentanten einer Religionsgemeinschaft die Bühne des Bundestages zu überlassen und damit die Trennung von Kirche und Staat in Deutschland weiter zu verwischen. Die Rechtfertigung – sofern man überhaupt eine für nötig hielt – lautete, der Papst spräche als Oberhaupt des Vatikans.
Ich war gespannt, was er als Oberhaupt eines Zwergstaates zu sagen hätte und hörte mir die Rede an. Um es gleich zu sagen: Das Staatsoberhaupt vernahm ich nicht. Die Rede war eine Mischung aus Predigt und Vorlesung. Beides war enttäuschend. Der Predigt fehlte der Schwung, der Vorlesung Präzision und Tiefe.

Vorgetragen wurde die Rede wie die Vorlesung eines Kathedergelehrten, der sich seiner Zuhörer sicher ist, weil er den Vorsitz der Prüfungskommission führen wird, die den Stoff abfragen wird. Die verwendete Sprache trug ein Übriges dazu bei, dass es schwer fiel, beim Redner zu bleiben. Das funktioniert vielleicht bei Studenten, die sich ausführlicher Exegese des Gesagten befleißigen müssen und wollen, um dem eigentlichen Gedanken des Meisters auf die Spur zu kommen. In jedem anderen Kontext ist diese Redeweise eine Zumutung für jedes Publikum, dem nicht von vornherein feststeht, dass von diesem Redner nur Bedeutendes kommen kann.
Bedeutendes wird in der Tradition der Deutschen Philosophie ja gern in einer Art Privatsprache gesagt, die dem Außenstehenden eher eine Ahnung des Gemeinten vermittelt als ein kritikfähiges Verständnis desselben. Der Kritikwillige bleibt verwirrt zurück und der Ahnende zieht aus der Rede eben das, was er schon immer ahnte. Im Ergebnis erleiden viele solcherart Reden das Schicksal, vergessen zu werden. Man wird vermutlich noch lange davon reden und schreiben, dass der Papst vor dem Bundestag geredet hat, die Rede selbst wird man außerhalb interessierter/betroffener Kreise vergessen.

In dieser Hinsicht noch vergleichsweise harmlos ist die folgende Passage, die wohl darauf zielt, den Kritikern seines  Auftritts den Wind aus den Segeln zu nehmen:
„Aber die Einladung zu dieser Rede gilt mir als Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für die katholische Christenheit trägt. Sie anerkennen damit die Rolle, die dem Heiligen Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft zukommt. Von dieser meiner internationalen Verantwortung her möchte ich Ihnen einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats vorlegen.“
Sehen wir uns die Sätze einmal einzeln an:
„Aber die Einladung zu dieser Rede gilt mir als Papst, als Bischof von Rom, der die oberste Verantwortung für diekatholische Christenheit trägt.“
Aha, sagt sich der Hörer, ist er doch als Vertreter der Glaubensgemeinschaft gekommen.
„Sie anerkennen damit die Rolle, die dem Heiligen Stuhl als Partner innerhalb der Völker- und Staatengemeinschaft zukommt.“
Eine kleine Glanzleistung vernebelnder Sprache. Nahegelegt wird die Reaktion: Aha, es geht um die Staatliche Rolle des Vatikans, dann wird er wohl als Staats-Chef sprechen.
ABER fragen Sie sich einmal: Welche Rolle des Heiligen Stuhls wird anerkannt?
Die Rolle wird nicht spezifiziert, nur beansprucht.
„Von dieser meiner internationalen Verantwortung her möchte ich Ihnen einige Gedanken über die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaats vorlegen.“
Der Satz wechselt auf engstem Raum vom Gestus des Staatsmannes in den Gestus des Gelehrten. Der Redner täuscht – fußballerisch gesprochen - links an (international = staatsmännisch), um dann rechts vorbei zu gehen (Grundlagen des Rechtsstaats = ideologierelevantes Thema). Mit diesem Zug eröffnet er das eigentliche Spiel.
Ein Spiel zu dem mir angesichts des intellektuellen Rufes des Redners nur das Wort „gerissen“ einfällt. Vielleicht ist es aber auch simpel der Ausfluss der Selbstgewissheit, dass der katholischen Kirche die Rolle der geistigen Führerin zukomme. Nicht in der Wissenschaft, aber in Sachen Recht und Moral.

Der Form nach ist die folgende Rede dann ein Traktat, der in einem katholischen Priesterseminar am rechten Platz gewesen wäre. „Wahrheiten“ werden festgestellt, die Aussagen aber nicht gestützt. Das wäre wünschenswert gewesen, denn die Folgen solcher Gedankenspiele sind - wie immer bei rechtsphilosophischen Fragen – von erheblicher praktischer Relevanz.
Zwei Beispiele mögen das illustrieren.
1. „Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen.“
Die Formulierung „Menschen vom Menschsein ausschließen“ enthält eine partitio principii, auf die sich die katholische Sexuallehre beruft, wenn es um Schwangerschaftsabbruch und angrenzende Themen geht. Dabei geht der Streit zu großen Teilen ja gerade darum, was als Mensch zu zählen ist.
2. „Wie erkennt man, was recht ist? In der Geschichte sind Rechtsordnungen fast durchgehend religiös begründet worden: Vom Blick auf die Gottheit her wird entschieden, was unter Menschen rechtens ist.“
Obwohl ich nicht recht verstehe, was „Vom Blick auf die Gottheit her“ genau bedeutet, scheint es mir auf nichts anderes hinaus zu laufen als dass der, der die Gottheit nicht im Blick hat, nicht entscheiden kann. Der braucht dann eben die Führung dessen, der den richtigen Blick hat. Einen Geltungsgrund für diese Aussage gibt der Redner nicht an. Hier will ich abbrechen. Die kritische Auseinandersetzung mit geschlossenen Gedankengebäuden ist schwierig, aufreibend und mit der hier gebotenen Kürze nicht zu leisten.

Kommen wir zum rhetorischen Fazit:
Das Redeziel des Papstes war (vermutlich) die Festigung des Anspruchs der Katholischen Kirche auf die geistige Führerschaft in der deutschen Gesellschaft.
Hat er das Ziel erreicht?
Außer bei schon vorher überzeugten Katholiken, nicht.
Gehörte diese Rede in den Bundestag? Nein.

 

 

 Grundsatzrede von Philipp Rösler am 15.5.2011

 

Auszüge

aus der Rede 

 

 

 

 

 

Redekritik

Kein Stakkato, keine Attitüde des furchtlosen Ritters (der Gerechtigkeit), kein Geschrei. Der Stilunterschied zum alten Vorsitzenden  war nach wenigen Sekunden offenbar, als Philip Rösler auf dem Rostocker Parteitag seine Grundsatzrede hielt.
Ein Hauch von familiärer Nestwärme ging von ihm aus. Da war die FDP wirklich anderes gewöhnt. Man scheint sich nach Menschlichkeit und Wärme zu sehnen bei der untergangsgefährdeten Partei. Nachdem Lautstärke zu nichts geführt hat, entwickeln Zurückhaltung und Konzilianz Anziehungskraft. Die geschundenen Seelen wollen Balsam. Und Rösler bedient diese Hoffnung. Er präsentiert sich als einer, der mitten im Leben steht, der “Familie“ und „Heimat“ ganz selbstverständlich in den Mund nimmt. Schärfe ersetzt er meistens durch moderate Ironie und Witz. Rhetorisch gesehen, erfüllt Rösler die Forderung nach äußerer Angemessenheit (aptum) sehr gut: Er redet zu den Delegierten, wie sie es hier und jetzt schätzen.

Performativ, also beim Vortrag, ist Rösler nicht der Stärkste. Er spricht frei, das ist beeindruckend, belegt aber im Grunde nur gutes Gedächtnis und sorgfältige Vorbereitung. Letzteres ist das Mindeste, was ich von einer frischen Nummer Eins erwarte. Bleiben wir beim Vortrag. Rösler zerhackt seine Sätze, indem er seine Sprechpausen oftmals nicht nach Sinneinheiten macht. Damit erschwert er das Erfassen der Gedanken merklich. Und er verschluckt häufig die Enden von Wörtern und Sätzen. Mit vergleichbarer Wirkung. Es ist nachgewiesen, dass solche Störungen dem Auditorium die rationale Kritik am Gesagten schwer machen. Die Zuhörer finden – grob gesprochen – vor lauter Wundern über die Absonderlichkeiten keine Zeit mehr, innerlich Gegenargumente gegen die Behauptungen des Redners zu entwickeln. Deshalb gilt - nicht nur in der Werbung: Was zu dumm ist, gesprochen zu werden, wird gesungen. Nun unterstelle ich nicht, dass Herr Rösler diesen Mechanismus bewusst nutzen will, noch unterstelle ich den Delegierten, dass sie ihrem neuen Vorsitzenden besonders kritisch zuhören wollten. Insofern ist nichts Schlimmes passiert. Weil dieser Effekt  aber auch uns Außenstehende beeinflusst, sei davor gewarnt.

Inhaltlich und argumentativ habe ich - im Unterschied zu Röslers Behauptung und zu anderen Kommentatoren – keine wesentliche Neuorientierung ausmachen können. Rösler bleibt weitgehend bei einigermaßen wohlfeilen Gemeinplätzen, die er mit Schlagworten markiert: Freiheit, Mitte, Europa, Verantwortung, weniger Staat, um nur einige zu nennen. Und „Steuern senken“ nicht zu vergessen. Dazu noch „liberal“ und „bürgerlich“ und das Arsenal ist einigermaßen komplett. Das hat man alles schon einmal gehört, sogar in Reden von FDP-Politikern.
Die Neuorientierung liegt nach dieser Rede eher im Stil des Auftretens, von mir aus auch des Selbstverständnisses der Partei. Mir scheint: Rösler will sie volksnäher machen. Eine Partei zum Anfassen für jedermann. Eine Art Steuersenkungs-SPD vielleicht.

Aber zurück zur Rhetorik.
Zwei Mittel fallen  besonders auf. Da ist zunächst eine echte Neuerung: Ein Parteivorsitzender bringt erstens seine Familie mit zum Parteitag. Zweitens stellt er den Delegierten die Familie vor und die applau-dieren drittens auch noch dafür. Symbolische Handlungen, die den politischen Diskurs nicht voranbringen, aber das (wichtige) Zeichen der „Erdung“ des Politikers aussenden. „Mensch“, soll der Hörer denken, „der hat ja sogar eine Schwiegermutter.“
Als zweites Mittel fällt in Röslers Rede das Storytelling  auf. Rösler weiß um die Wirkung einer guten Story und baut sie schon mal ein wenig gewaltsam in seine Rede ein. Das schadet denen naturgemäß nicht, denn Geschichten sind - nach allem was wir wissen –nicht totzukriegen. Die entscheidende Stärke von Geschichten ist aber wiederum die Wendung an das Gefühl der Hörer und ihre Eignung zur Erbauung.

Rösler hat seine Partei getröstet und ihr die Hoffnung gegeben,sie könnte wieder sympathisch werden. Ob das reicht, um sie zu retten, bleibt fraglich.
Ich glaube es nicht.

 

 Rede von Bundespräsident Wulff am 3. Oktober 2010

 

 

Auszüge
aus der Rede

 

 

 

 

Redekritik

 Es war langweilig, langweilig, langweilig.
Wie ein netter Verwaltungsfachangestellter, der am Sonntag Paulo Coelho liest und sich jetzt an einer Rede in der salbungsvollen Stilart erprobt, so stand Christian Wulff am Rednerpult in Bremen. Er wirkte unsicher und redete öfter neben den  Sätzen her, als wäre ihm deren Sinn gerade entfallen. Schon bei der ersten Reihung im ersten Absatz geht ihm die Puste aus.
Überhaupt liegt ihm Pathos nicht, ja ist ihm fremd. Man höre sich den geschäftsordnungsmäßigen Ausdruck an, wenn er sagt: „Ich verneige mich …“. Auch sonst fand sich nichts Mitreißendes, Wegweisendes. Motivierendes auch nicht.
Keine Wertung also für den Redner in den rhetorischen Fächern delectare und movere. Doch wie stand’s ums docere?
Auch nicht besser. Der Redner reihte ausgelutschte Gemeinplätze lose aneinander. Nichts war neu, nichts originell. Keine Überraschungen. Dafür alles 100 % ausgewogen.
Er fragt: „Doch was meint ‚einig Vaterland‘? Was hält uns zusammen? Sind wir zusammengewachsen, trotz aller Unterschiede?“
Dann geht es ihm erst einmal um die Frage, was uns zusammenhält, denn er setzt fort: „Eine erste Antwort liegt auf der Hand: Es ist die Erinnerung an unsere gemeinsame Geschichte.“
Gleich darauf verliert er diesen Gedanken aus dem Blick. Statt seiner Ausarbeitung/Vertiefung folgt ein Strauß von Danksagungen. Jede irgendwie korrekt und irgendwie zu Recht und permanent blass. Wulff formuliert blass und schmalbrüstig.
Die mutigsten Sätze, die ich fand, waren:
1. „Das ist nicht ausreichend gewürdigt worden.“ (Nämlich, dass es „die Ostdeutschen“ waren, „die den allergrößten Teil des Umbruchs geschultert haben.“ Nebenbei: Wie schultert man einen Umbruch?)
2. „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ An beiden Stellen entfuhr mir ein – natürlich leises – „Donnerwetter!“ Man musste eben hinhören.
Ansonsten war da Ausgleich, Mainstream, Mittelmaß in allem.

Beklagenswert auch die schwache Sprache.
Wulff kalauert schon mal: „Vor allem im Ausland fragten sich viele, ob das gut geht, wenn es ganz(!) Deutschland wieder gut geht.“
Oder, wenn es gefühlig werden soll: „Für all das sind wir unendlich dankbar.“
Daneben tief Gedachtes wie: „Das ist die historische Leistung der Menschen.“
Oder: „Vielfalt schätzen, Risse in unserer Gesellschaft schließen – das bewahrt vor Illusionen, das schafft echten Zusammenhalt.“
Oder: „Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt.“

Eine Festrede ist sicher nicht der Ort für ausgiebige Erörterungen. Ein bisschen gedankenvoller darf sie aber schon sein. Vor allem, wenn sie als Grundsatzrede angekündigt wird.
Da ist noch viel Luft nach oben, Herr Wulff.

Abschließend noch ein persönliches Wort zur deutschenVereinigung. Einen Gewinn brachte sie unbestreitbar, nämlich den, dass diese Redekritik möglich ist, ohne zur Staatsaffäre zu geraten.

PS.: Kaum stand diese Kritik im Netz, las ich, das Wulff für den Satz "Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland." aus der Union kritisiert wird. Offenbar war er damit kühner als ich vermutete. Welches Deutschland hat ein Herr Bosbach im Kopf, der meint. "Zwar ist der Islam inzwischen Teil der Lebenswirklichkeit in Deutschland, aber zu uns gehört die christlich-jüdische Tradition."? Das sind doch mal feine semantische Linien. Spricht er von Christentum? Spricht er von Volk? Es wird Zeit für Laizismus in Deutschland.

 

 

Rede von Sigmar Gabriel
auf dem Parteitag der SPD am 26.9.2010

 

Auszüge
aus der Rede

 

 

 

 

 

 

Redekritik

 Fast zwei Stunden lang verfolgte Gabriel erkennbar die Absicht, seine Partei „links von der Mitte“ aufzustellen. Weite Passagen der Rede drehten sich darum, diese Position als vakant, aussichtsreich und in der SPD verankert darzustellen. Viele Zuhörer dürften das Gefühl gehabt haben, die SPD kehre wieder an ihren angestammten Platz zurück, den sie seit Schröder verlassen hatte.
Um seinen Genossen Mut zu machen für den Marsch zurück, wagt der Redner gleich zu Anfang eine Bauernfängerei. Kurz gefasst und auf den Kernreduziert lautet seine Logik: Wir sind nicht so tot, wie man uns vor einem Jahr vorausgesagt hatte, ergo sind wir putzmunter. Die Delegierten reagierten darauf etwas ungläubig. Wenig später fingen sie sich und feierten demonstrativ den „Wahlsieg“ von Hannelore Kraft in NRW.

Die Position künftige Position der SPD beschreibt Gabriel so:
„Mehrheiten links von der Mitte brauchen ein starkes und verlässliches Zentrum. Das weiß am Ende auch das aufgeklärte Bürgertum. Und deswegen kämpfen wir nicht gegen andere Parteien, sondern um ein neues gesellschaftliches Bündnis zwischen Arbeitnehmern und ihren Familien, aufgeklärten Bürgerinnen und Bürgern, Selbstständigen und kritischen Intellektuellen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass unser Land zusammengehalten und nicht immer mehr auseinander getrieben wird. Und das ist die Politik der SPD, die im Zentrum dieses Bündnisses steht.“
Spricht’s und fällt sogleich über „die“ her, die da regieren. Er tut das mit Häme, mit Ironie und mit Witz. Und er genießt es. Und sein Publikum mit ihm. Überhaupt kommt Gabriel immer am besten in Schwung, wenn er sich seine Gegner vorknöpft.

Um einiges dünner wird die Rede, wenn man sich fragt, was denn diese reklamierte Position konkret bedeuten soll. Da bleibt es dann doch bei sehr allgemeinen Appellen. Da bleibt es dann – wie gewohnt - bei einem Sowohl-als-auch, wenn auch einem kämpferischen. Mehrfach heißt es, die Partei „müsse sich um dieses oder jene kümmern“. Das würde die Kanzlerin vermutlich unterschreiben. Nur, wie es gehen soll, bleibt offen. Stattdessen bedankt sich der Redner bei einigen Mitstreitern für deren Bereitschaft, über bestimmte Probleme nachzudenken. Wohlgemerkt: Nicht für Ergebnisse bedankt er sich, sondern für die Bereitschaft, in Arbeitsgruppen mitzuarbeiten. Ist es so schwer, Leute dafür zu finden?
Bei der Beschreibung des „Markenkerns“ der Sozialdemokratie werden die altgedienten Schlagwörter bemüht: Gerechtigkeit und Freiheit. Auf diesem Allgemeinheitsniveau wird kein Unterschied zu anderen Parteien sichtbar. Wichtig wäre, zu erfahren, was genau darunter verstanden werden soll. Gabriels Antwort: „Wir müssen parteiischer werden.“
Prima! Aber parteiischer für wen? So kann man immer weiter fragen.
Hoffen wir, dass die Antworten bald sichtbar werden.
Immerhin sagt er, gegen wen es geht, nämlich die „wenigen, die ihren Herrschaftsanspruch immer mehr ausweiten wollen.“ Wer, zum Teufel, ist das? Wen meint er?
Macht man so einen Linksruck? Ohne jemandem weh zu tun? Wir werden es erleben.

Formal sind an der Rede vor allem die performativen Fähigkeiten des Redners hervorzuheben. Gabriel spricht sehr moduliert. Er raunt und schreit. Von allen Rednern, die ich bisher hier besprochen habe, hat er die meisten Register. Da gibt es das Register “Nachdenken“, das Register „Parole“, das Register „Engagement“ und das Register „Beschwörung“, um die wichtigsten zu nennen. Und wie ein Organist zieht Gabriel die Register nach Belieben. Das macht das Zuhören angenehm, öfters sogar unterhaltsam, hat aber auch einen unerwünschten Effekt.
Gabriel wechselt die Register so schnell und so mühelos,dass seine Glaubwürdigkeit in Gefahr gerät. Wer seine Stimme hebt, nur weil er sie heben kann, dem glaubt man schließlich die Leidenschaft nicht mehr, die durch die Lautstärke signalisiert werden soll. Am auffälligsten wird das immer dann, wenn der Redner aus dem leidenschaftlichen Fach übergangslos ins unaufgeregt sachliche wechselt. Da spürt man zu viel Absicht, zu viel Technik, zu wenig den Redner.

Gabriel ist wahrscheinlich kein braver Parteisoldat. Aber was ist er dann?

 

 

Rede von Oskar Lafontaine zum Parteitag der Linken
am 15.5.2010

 

Auszüge
aus der Rede

 

 

 

 

 

Redekritik

Bei einer Parteitagsrede, die vom Fernsehen übertragen wird,stellt sich immer die Frage: An wen wendet sich der Redner? Spricht er zu den Parteifreunden oder zum Fernsehpublikum? Für Lafontaines Rede ist diese Frage besonders von Belang, attackiert er doch die üblichen Gemeinplätze. Wahrscheinlich hat er die Außenwirkung im Fokus. Andernfalls müsste er die Gemeinplätze seiner Genossen zwar auch heranziehen, dann aber Schlüsse aus ihnen ziehen. Also in etwa sagen: „Deshalb werden wir …“ Das tut er durchaus auch.
Überwiegend aber führt er Begriffe in die Debatte ein und nutzt sie für Angriffe auf den Meinungsgegner.

Drei Mittel fallen auf:
1. Er demonstriert wiederholt seine geistige Unabhängigkeit. Das beginnt in den ersten Minuten mit den Sätzen: „Ich bin oft gefragt worden, ob ich jetzt nicht mit Wehmut aus dem Amt scheide. Das ist für mich jetzt keine Kategorie, die mich im Moment besonders beschäftigt. (Im Protokoll weggelassen.) Mich erfüllt ein Gefühl der Dankbarkeit …“ Hier spricht er nur scheinbar von einer Kleinigkeit, denn Lafontaine etabliert damit den Gestus des Selbstdenkers, ja des Querdenkers. Ein Gestus, der sich durch die ganzeRede zieht.
2. Immer wieder legt Lafontaine wichtige Begriffe fest, indem er Definitionen gibt. Vorzugweise von Kampfbegriffen wie „Freiheit“, „Demokratie“, „Demokratischer Sozialismus“. Die so definierten Begriffe werden als sinnvoll und erstrebenswert dargestellt und anschließend als Brückenköpfe für Angriffe auf den Meinungsgegner genutzt.

Das funktioniert an mehreren Stellen sehr gut. Manchmal kommt dabei aber auch Ungereimtes heraus. Wenn nämlich die Unterscheidungen haarspalterisch ausfallen wie bei dem Satz: „Das heißt, die Mehrheit kann sich zwar durchsetzen, sie darf aber nicht der Minderheit ihren Willen aufzwingen.“ (???)
3. Der Redner betont bei seinen Begriffsdefinitionen immer wieder, wie einfachund einleuchtend seine Begriffe doch seien. Auch dies eine Methode, dasPublikum auf einen passenden Gemeinplatz zu locken, von dem aus die gewünschtenSchlussfolgerungen leicht zu ziehen sind. Beispiel: „Wir wollen den demokratischen Sozialismus. Und wir können auch sagen,was wir damit meinen. Das ist gar nicht so schwer. …“

Lafontaine führt den Kampf um seine Ideen überwiegend als Kampf um Begriffe. Das ist klug. Das ist seit jeher die Kampfmethode der Außenseiter, der Underdogs. Und es zeigt Wirkung, die die Etablierten – Journalisten eingeschlossen – nicht wahrhaben wollen. Dazu kommt, dass er das verbreitete Technokratendeutsch meidet und meistens plan spricht. Er „nennt die Dinge bei Namen“, die auch die Plebs versteht. Auch darin ein Nachkomme der römischen Volks-tribunen.
Als solcher glättet auch schon mal das Sperrige, wo Nachdenklichkeit gut getan hätte, zum Beispiel wenn er die Linke in die Geschichte einordnet: Für mich war der demokratische Sozialismus immer eine Bewegung hin zur menschlichen Freiheit, hin zur Freiheit eines jeden Einzelnen. Deshalb steht er in einer großen historischen Tradition. Ich nenne mal die Sklavenaufstände in Rom, ich nenne die Bauernkriege im Mittelalter, ich nenne die Französische Revolution, ich nenne die Novemberrevolution 1918 … und ich nenne auch die friedliche Revolution 1989. In dieser Freiheitstradition steht derdemokratische Sozialismus, stehen wir alle.“
Auf diesem Lafontaineschen Weg vom Ich zum Wir wird eine Meinung zu einer Faktenbehauptung. Das ist schlicht unzulässig, auch wenn sie dem Redner in den Kram passt. Obendrein ist die Beschreibung der Tradition höchst beliebig und selektiv. Ich vermisse den schlesischen Weberaufstand 1844, die Schlacht am Little Bighorn 1876 und den Herero-Aufstand 1904. Zum Beispiel.
Am meisten aber vermisse ich die DDR-Tradition der Partei.
Lieber Herr Lafontaine, niemand kann seine Realtradition, seine Abstammung einfach ausradieren und durch eine Idealtradition ersetzen. Selbst dann nicht , wenn ihm peinlich ist, woher er stammt.

In den Sachfragen laufen viele Vorschläge Lafontaines darauf hinaus, die neoliberalen Entwicklungen wieder rückgängig zu machen, zu „re-regulieren". Ob dieser Blick zurück die ganze Lösung zeigt, darf getrost bezweifelt werden. Immerhin aber zeigt er, dass vieles von den als „alternativlos“ dargestellten „Erfordernissen der Globalisierung“ schlichtes Menschenwerk sind und als solches natürlich korrigierbar. Dass Lafontaine seinerseits seine Sicht als einzig richtig und quasi alternativlos bezeichnet, wer will ihm das in einer Parteitagsrede verübeln?
Schon der Tatbestand, dass sich zwei unterschiedliche Auffassungen (Sagen wir mal: Westerwelle und Lafontaine.) als jeweils alternativlos gegenüber stehen, ist ermutigend. Weniges führt die Existenz von Wahlmöglichkeiten klarer vor Augen als zwei widersprechende Alternativen, die sich als alternativlos präsentieren. In dieser Durchbrechung der allgemeinen geistigen Eintracht der Eliten liegt vielleicht die Stärke Lafontaines; möglicherweise sogar der Linken.

Zwei Anmerkungen noch zum Redner Lafontaine.
Da ist der Vortrag. Ach, der Vortrag! Sehen Sie sich einmal an, wie Lafontaine erklärt, wie es zur Krise des Euros kam und was zu tun ist. So knapp und so klar wurde mir bis dahin noch nie das Problem geschildert.
Und auf noch ein kleines Bravourstück der Beredsamkeit will ich hinweisen. Sein Wirtschaftsprogramm beschreibt Lafontaine mit drei Buchstaben: KFW. Selbstredend gibt er schnell die Auflösung. Aber nicht ohne die Kreditanstalt für Wiederaufbau zu erwähnen und nicht ohne auf die Aura des Wortes „Wiederaufbau“ zu schielen.

Fazit: Solch ein Redner ist für seine Partei Gold wert.Jetzt geht er in Rente und man wird sehen, wie sich die Neuen schlagen.

 

 

Drei-Königs-Rede 2010 von Guido Westerwelle 

 

Auszüge
aus der Rede

 

 

 

 

 

 Redekritik

 „Wir machen es besser als die anderen!“  könnte über den Reden stehen, die Guido Westerwelle im Januar 2010 gehalten hat. Fast alle seine Argumente sind Argumente ad personam. Mustergültig demonstriert beim Thema „Experten schlagen vor, die Mehrwertsteuer zu erhöhen“ (s. Video). Die anderen haben es verbockt; sie kritisieren ihn, wenn er etwas tut und auch, wenn er es lässt etc. Es klingt gelegentlich so, als kenne er Kritik nur als Mittel des Wahlkampfes, aber nicht als Anregung, die einen Diskursteilnehmer irritieren könnte. Jeden- falls nicht ihn. Er steht da drübber.
 Dies wiederum verwundert nicht, wenn man hört, wie er – heute wie gestern - sein Mantra aufsagt. Es ist zweistufig und lautet: „Leistung muss sich (wieder) lohnen!“  Deshalb (2. Stufe): „Steuern runter! Weniger Staat! Verantwortung des Einzelnen!“ Das neue Etikett auf dem alten Wein verkündet die „geistig-politische Wende“. Worin die Umkehr oder wenigstens Richtungsänderung bestehen könnte, die im Wort „Wende“ mitgedachtsind, hat sich mir nicht erschlossen. Weder geistig noch politisch. Ich kann mich nämlich nicht erinnern, von der FDP jemals eine andere Botschaft vernommen zu haben.
 
Nun könnte die Botschaft ja trotz Mogeletikett richtig sein. Dann müssten sich Argumente dafür finden lassen. Die hören sich bei Westerwelle so an:
„Die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger können sich allzu oft das Leben in Deutschland nicht mehr leisten. Die streben nicht nach Reichtümern, sondern nach einem vernünftigen Leben für sich und ihre Familien … Die Mittelschicht muss gestärkt werden. Die kleinen und mittleren Einkommen müssen deswegen entlastet werden. Der Mittelstand ist das Rückgrat unserer Wirtschaft.“
Westerwelles Ideologie in der Nussschale: Nicht die Kleinheit der kleinen Einkommen  ist die Ursache für das Absinken der Mittelschicht, sondern deren Besteuerung.

Bei meinem nächsten Punkt weiß ich nicht: Ist sie Schlamperei oder Methode – die Gleichsetzung von Mittelschicht und Mittelstand? Zur Mittelschicht zählt Westerwelle in einer anderen Passage die Kassiererin im Supermarkt. Zählt er sie auch zum Mittelstand? Vermutlich nicht, denn der schafft Arbeits- und Ausbildungsplätze und das traue ich einer Kassiererin bei Lidl einfach nicht zu. Eher ist es eine bequeme Methode, sich die Argumentation zu erleichtern, wer etwas für den Mittelstand tue, der tue auch etwas für die Mittelschicht.
Lieber Herr Westerwelle, ich stimme Ihnen ja zu: Steuerpolitik ist Gesell-schaftspolitik. Dass Sie allerdings anscheinend auch die Umkehrung für richtig halten, finde ich traurig. Gesellschaftspolitik ist mehr als Steuerpolitik.

Mit dem Logos der Rede steht es also so lala. Darunter leidet auch das Ethos des Redners. Er gibt den unerschrockenen Klarsteller und mutigen Klartext-Redner und sagt das auch laut. Aber gerade weil er sehr gut mit Sprache umgehen kann, erwartet man Klarheit auch in Sachfragen und die bleibt auf der Strecke. Übrig bleibt der Eindruck von klugscheißerischem Theaterdonner nach dem Motto: Woll‘n wir doch mal zusehen, dass wir ´ne ordentliche Performance hinkriegen. Die Rede als Verkaufsveranstaltung mit der Glaubwürdigkeit eines Teppichverkäufers. Außerdem mischt sich unbeabsichtigt zu viel Polit-Sprech in die Formulierungen.

Westerwelle investiert mehr Mühe in die Form seiner Reden als in den Inhalt. Den kennt er von Kindesbeinen (s.o.).So lässt sich auch verstehen, dass das Pathos so wenig ergreift, obwohl der Redner große Worte wählt, Bilder, Vergleiche,Wiederholungen einsetzt. Er hat sogar Mut zur großen Geste. Achten Sie auf Körperhaltung und Blick im ersten Teil des Videos, wenn er die Freiheit anruft.
Alle diese Wirkungsverstärker nützen nichts, weil keine Idee sichtbar wird. Denn nicht nur Westerwelle kennt sein Mantra seit Kindesbeinen, sondern wir auch.

 

 

Neujahrsansprache der Bundeskanzlerin 2010

 

 

 

 

 

 

 

 

Redekritik

 Alle Jahre wieder sitze ich am Silvestertag vorm Fernseher und lausche meiner Bundeskanzlerin. Heuer schon zum fünften Male, wie sie sagte. Ich selber habe nicht gezählt. Es fällt mir immer schwerer, nicht zynisch zuwerden, angesichts der Abwesenheit von Inhalt und der Lieblosigkeit der Form. Deshalb ist dies meine letzte Redekritik einer Neujahrsansprache von Frau Merkel. Nächstes Jahr mache ich es wie die meisten: Ich höre gar nicht hin.
So weit ist es noch nicht.
Also:
Frau Merkel bedient sich der einfachen Stilart, redet also scheinbar so, wie ihr der Schnabel gewachsen ist. Es ist der hausfrauliche Schnabel der Mutter der Nation, die beim Brötchen holen mit den einfachen Leuten spricht - plan,ohne Kunst und floskelhaft.
Sie hält sich nicht an die Empfehlung von G. C. Lichtenberg: Die Gedanken dicht und die Partikeln dünne! Weder sind die Gedanken dicht, noch sind die Partikeln dünne. Im Gegenteil.
Das Ergebnis sind solche Sätze:
"Denn der heutige Abend weckt bei mir unmittelbare (?) Erinnerungen, und zwar an Silvester vor genau 20 Jahren. Das habe ich gemeinsam mit meinem Mann in Hamburg gefeiert."
Das ist umgangssprachlich tolerierbar, in einer ausgearbeiteten Rede ist es nur pedantisch. Alles wie gehabt.

Der Vortrag rettet manches. Darauf wurde offenbar in der Vorbereitung besonderes Gewicht gelegt. Er ist immer noch salbungsvoll – Oh, wie sie gestaltet! Das ist souveräner als früher, allerdings immer noch hoffnungslos überbetont. Und nicht immer sinngerecht. Das ist kein Sprechdenken, das ist Vorlesen vom Teleprompter.

Inhaltlich geht es - natürlich - nicht ohne Bezug zum Super-Jubiläum 2009 ab. Da rutscht Frau Merkel ein Satz heraus, der verräterischer kaum sein könnte:
"Ohne den Mauerfall wäre mein Leben wie das aller DDR-Bürger völlig anders verlaufen."
Kann man deutlicher ausdrücken, dass sich für unsere westdeutschen Mitbürger nichts geändert hat? Frau Merkel ist eben von Anfang an in die (alte) Bundesrepublik gegangen. Und sie weiß das. Anders lautende Statements sind Sonntagsreden.
Wie man mit Floskeln danebenhauen kann, zeigt der folgendeAusschnitt:
"Mein erstes Silvester in Freiheit nach 35 Jahren meines Lebens in der DDR - es war einmalig. (Stimmt, es gibt tatsächlich kein zweites Mal für das erste Mal!) Es war wunderbar. Schon wenige Monate später, am 3. Oktober 1990, war unser Land in Freiheit wieder vereint. Daran denke ich heute Abend."
Damit bin ich schon bei Merkels Mantra: Der Kraft der Freiheit.
"Es war die Kraft der Freiheit, die die Berliner Mauer zu Fall gebracht hat. Und es ist diese Kraft der Freiheit, die uns heute Mut für das neue Jahr und das nächste Jahrzehnt machen kann."

"Die Kraft der Freiheit und die Erfahrung des Miteinanders, 60 Jahre Grundgesetz und 20 Jahre wiedervereintes Deutschland - das zeigt: Unser Land hat schon ganz andere Herausforderungen bewältigt."
Geht es eigentlich noch trockener und nebelhafter? Und noch schiefer? Denn offenbar sind nach Merkels Auffassung 60 Jahre Grundgesetz eine ganz andere Herausforderung als die gegenwärtige Wirtschaftskrise und das hat unser Land schon bewältigt. Wie ist das bloß gemeint??

Den Rest der Ansprache überspringe ich und komme zu dem, was für mich die Kernbotschaft der Rede ist, das, was ich mit in das neue Jahr nehme:
Es wird schon werden; mit der Kraft der Freiheit.
Hören Sie selbst, lesen Sie selbst, urteilen Sie selbst!