Seit ich denken kann, schreite ich bei Erstbesuchen mit geneigtem Kopf die Bücherregale meiner Gastgeber ab.
Neugierig darauf, was er oder sie liest. Ich bilde mir nämlich ein, dies sage viel darüber, wes Geistes Kind einer ist.
Mein ganzes Regal zu zeigen, reicht der Platz hier nicht aus. Eine Auswahl musste getroffen werden.
Deshalb finden Sie hier Bücher, die mir gefallen.
Nicht immer brandneu. Nicht immer Bestseller. Nur lesenswert.
Immer eine Empfehlung.
Ulrike Almut Sandig: Flamingos
Obwohl ich davon gehört habe, Literatur solle oder könne tröstlich sein, verwendete ich doch eher Urteile wie „aufregend“ oder „erhellend“. Nun also dieses Buch. Ich las die ersten Seiten. Und war gebannt. Vergnüglich rauschten die Geschichten an mir vorüber, ohne dass ich den Inhalt recht mitbekam. Vom Stoff blieb beim ersten Lesen kaum etwas hängen, aber das störte mich nicht. Diese Prosa purzelte so anmutig durcheinander, dass ich mit Vergnügen allen ihren Sprüngen folgte. So etwas hatte ich noch nicht gelesen. Unbekümmert hopsten die Perspektiven hin und her. Ich nahm es, wie es kam und war getröstet: Wenn es diese Schönheit gibt, kann die Welt nicht verloren sein. Das ging so weiter, bis ich alle elf Geschichten gelesen hatte. Danach machte ich einen Tag Pause, um mich sodann der Frage zu widmen, wie dieser Effekt zustande kommt. Um es kurz zu machen: Ich glaube, es ist Hexenwerk.
Ich will versuchen zu zeigen, was den Sätzen der Autorin so passiert. Nachdem sich die Erzählstimme schon mehrfach an den Leser gewandt hat, lesen wir weiter:
… Dann stehen Sie am Fenster Ihres Arbeitgebers, der eben das Büro verlassen hat, um die Kündigung noch schnell auf den Kopierer zu legen, Sie stehen so da und trinken den Multivitaminsaft, den er Ihnen angeboten hat, Sie stemmen die Hand ans Fensterglas, die wird später einen Fettfleck hinterlassen, aber daran denken Sie jetzt nicht, Sie denken: Wär ich bloß einfach nicht da. Dabei geht es gar nicht um mich, wenn Sie solche Sachen denken. Es gibt mich gar nicht.
Liebe Leserin, lieber Leser, lenken Sie Ihre Aufmerksamkeit auf zwei Stellen:
Einmal fügt die Autorin ein, aber daran denken Sie jetzt nicht, und deutet damit darauf, dass Sie daran denken könnten (wie an tausend andere Dinge auch). Ließe man den Einschub weg, wäre alles Faktische (Hilfsausdruck!) noch da, der Witz aber verschwunden.
Noch radikaler das Dabei am Anfang des vorletzten Satzes. Ein solches Herumreißen der Perspektive, eine solche Scheinkohärenz (Hilfsausdruck!) hat mich bisher noch immer gestört und geärgert. In diesen Texten schlucke ich sie nicht nur ohne Widerspruch, ich genieße auch noch die Wirkung. Ich bin nicht belesen genug, um mit einem philologischen Namen für dieses Verfahren dienen zu können. Psychologen sprechen von Konfusionstechnik. Für hier sage ich: Großes Kino!
Und worum geht es? Zunächst einmal in jeder Geschichte um etwas anderes: einer Frau wächst ein drittes Auge; ein Junge trägt seinen Bruder zu Grabe; ein blindes Mädchen fährt Fahrrad nach Gehör; ein Halbwüchsiger befreit sich von seinem nicht eingeborenen Zwilling und so weiter. Die Figuren neigen dazu, entweder der Wirklichkeit nicht recht anzugehören oder dieselbe nicht zu akzeptieren. Im ersten Falle scheint es der Autorin um den Nachweis zu gehen, dass auch das Unglaubwürdigste glaubhaft gemacht werden kann, indem man es in Geschichten verpackt. Denn was erzählt werden kann, ist auf eine vertrackte Art auch möglich, ja sogar wirklich. Sogar die Frau der ersten Geschichte des Buches, die sich nicht um die Wirklichkeit schert und damit beginnt, sie erzähle jetzt ihre Geschichte, obwohl sie nie gelebt habe. Das ist melancholisch und mit Witz erzählt, manchmal hart am Manierierten, aber das ist nicht alles. Auf einer tieferen Ebene fragen die Texte: Was ist wirklich an der Wirklichkeit? Der Wirklichkeit, die für uns ja immer eine sprachliche ist.
Und da sagen die Geschichten: Die Wirklichkeit ist nicht alles, es gibt da immer noch den Raum des Möglichen. Möglichkeit nicht als Rechengröße verstanden, sondern als Herausforderung an die Wirklichkeit. In Erzählungen beschriebene Möglichkeiten erinnern uns daran, dass jede Wirklichkeit auch anders denkbar ist. Darin liegt ein zweiter Trost dieser Geschichten.
Das klingt vielleicht nach Zirkel, Reißbrett und Berechnung, aber nichts davon ist direkt spürbar. Selten war ein intellektuelles Vergnügen so sinnlich.
Und wissen Sie, was das Schönste an diesen Geschichten ist? Man kann sie niemandem erklären.
Also: Lesen Sie selbst!
PS: Für die Anregung zu den Klammertexten bedanke ich mich bei Wolf Haas und Almut Sandig.
Agota Kristof: Das große Heft
Gewöhnlich lernen Kinder was sie fürs Leben brauchen von Lehrern und Eltern. Und von denen lernen sie das, was Lehrer und Eltern eben für wichtig erachten.
In diesem Roman bringen sich Zwillingsbrüder selbst bei, was sie unter den herrschenden Umständen für nötig halten. Und die Umstände sind: Krieg. Um der Not der Großstadt zu entgehen, werden sie zu ihrer Großmutter auf das Land gebracht. Aber der Krieg ist überall und muss ertragen werden.
Zum selbst gewählten Bildungsprogramm gehört das Schreiben von „wahren“ Aufsätzen. „Wahr“, insofern die beiden beschließen, nur sichere Dinge nieder zu schreiben, also Fakten und nur Fakten. Gefühle, Vermutungen über Beweggründe anderer, Ausdeutungen von Situationen sind unzulässig und kommen deshalb auch nicht vor. Vorgänge werden nicht mit Bedeutung aufgeladen, sondern erschöpfen sich im äußeren Ablauf. Es gibt nur ein Neben- oder Nacheinander. Gründe, Zwecke, Ursachen, Zusammenhänge bleiben, weil sie auslegbar sind, unerzählt. So vermeiden sie es, einem sinnlosen Geschehen einen Sinn zu unterschieben.
Zwischen das Erlebte und die aufgeschriebene Zeile schieben sie eine Wand aus glasklarem Verstand. Gefühle, Empfindungen werden quasi abtrainiert, mindestens aber geleugnet. Gleichzeitig lassen sie nichts aus, ersparen uns nichts.
Daraus entsteht ein Kriegstagebuch von so irritierender Nüchternheit, wie sie mir noch nicht begegnet ist.
Um den Krieg auf Distanz zu halten, lassen die Zwillinge nur zwei Maßstäbe gelten: Selbstgewählte Zwecke und eine kompromisslose Rationalität der Mittel, um diese Zwecke zu erreichen. Sie treiben Exerzitien wie „Abhärtung des Körpers“, „Abhärtung des Geistes“, „Übung in Blindheit und Taubheit“, „Übung in Grausamkeit“. Auf diese Weise gelangen sie zu der illusionslosen Rohheit, die der Krieg verlangt, wenn man klar sieht und daran nicht verrückt werden will. Das unterscheidet die Zwillinge vom umgebenden Personal, das kaum weniger roh ist, dies aber gefühlig bemäntelt. Mit Gefühlen, die den Einzelnen schützen, ihn aber unter bestimmten Bedingungen zur dumpfen und dummen Erfüllungsmaschine „höherer Zwecke“ werden lässt.
Die beiden Jungs kennen keine höheren Zwecke. Sie sind grausam auf eigene Rechnung und auf offener Bühne. Sie sind nicht gerechtfertigt; sie sind die Fleischwerdung der rationalistischen Grausamkeit des Krieges. Ihre Verrohung spiegelt die Rohheit des „rationalen“ Krieges, der nicht im Blutrausch geführt wird, sondern nach Plan und im klimatisierten Gefechtsstand mit der Hand am Joystick.
Sie spiegeln aber auch die drohende Verrohung aller (pseudo)rationalen Welten. Welten, in denen kaltes Handeln mit logischen Gründen als alternativlos gerechtfertigt wird.
In kurzen Sätzen breitet Agota Kristof die Ungeheuerlichkeiten des Krieges aus. Unbeschreibliches wird nicht beschrieben und doch in aller Deutlichkeit gesagt. Die Sprache ist faktisch und wendet sich an den Verstand. Sie wühlt nicht auf. Aber sie macht wach. So wach, dass dem Leser nicht in den Sinn kommt, angesichts der Katastrophe „Ach, wie schrecklich!“ zu murmeln, um sich anschließend auf die andere Seite zu drehen und einzuschlafen. Sie steckt im Kopf wie ein Messer.
Daniel Kehlmann: Ruhm
Hier sitze ich, kaue am Bleistift und finde nicht heraus, wofür ich das Buch loben soll. Fest steht: Ich habe es mit Vergnügen gelesen. Aber wie fasse ich in Worte, woraus ich das Vergnügen zog bei diesem Buch. Schließlich bin ich meinem Leser auch Gründe schuldig.
Dafür kämen die Einfälle infrage, die flüssige Schreibe, die fast beiläufige Genauigkeit. Alles das ist da, keines ist Hauptgrund meines Vergnügens. „Spielerisch“ fällt mir ein. „Spielerisch“ trifft am ehesten, was mich bei der Lektüre anzog. Kehlmann spielt mit Ernst und mit Köpfchen.
Schon der Umschlag spielt mit Begriffen.
„Was schreiben wir drauf? ‚Roman‘ oder‚Geschichten‘?“, hat der Verleger vermutlich gefragt. „Roman in Geschichten“ hat Kehlmann geantwortet. Dann nutzte er die neun Geschichten als Fingerübungen, um zu probieren, wie gut er die Tonart wechseln kann. Das gelingt ihm so gut, die Wechsel im Ton sind so heftig, dass es dem Leser schwer fällt, das ganze Buch als einen zusammenhängenden Text zu lesen. Keiner würde, ließe man sie weg, eine Geschichte vermissen. Warum spricht Kehlmann dennoch von einem Roman? Meine Vermutung ist: Um den Leser zu ermuntern, die Geschichten im Zusammenhang zu lesen und auf diese Weise den Roman erst im Kopf des Lesers entstehen zu lassen. Der Leser ist als Kohärenz-Hersteller eingeplant und gefordert.
Eine Wirkung der trickreichen Genrebezeichnung besteht darin, dass man sich beim Lesen der Geschichten an die Roman-Regel hält, nämlich strikt von vorn nach hinten zu lesen und nicht nach Gusto vor und zurück zu springen, wie man es üblicherweise bei Erzählungsbänden hält.
Bleibt man bei den einzelnen Geschichten, ist leicht gesagt, worum es jeweils geht. Es geht um eine Frau, die auf keinen Fall in eine Geschichte hinein-geraten will, einen Nerd, der auf jeden Fall hinein will, einen Mann, dem ein Handy beinahe zu einem neuen Leben verhilft, einen Philosophen, der vom Optimismus die Nase voll hat … Das ist gut gemacht und hat Biss, ist aber – ich sagte es wohl schon - nicht alles.
Nehmen wir das Ganze in den Blick: Die Geschichten hängen lose miteinander zusammen. Die Wege von Protagonisten kreuzen sich. Hin und wieder erfahren wir, wie sich das Handeln des Einen auf das Leben eines Anderen auswirkt. Fast immer sind es Fernwirkungen, die der Erleidende keinem Verursacher zuordnen kann. Einer spielt, ohne es zu ahnen, Schicksal für einen Anderen und dieser wiederum nimmt es hin, ohne weiter zu fragen.
Dies allein kann es aber kaum sein, würde „Roman“ kaum rechtfertigen. Also: Worum geht es in dem „Roman“? Am ehesten wohl um die Frage der Autorschaft in vielerlei Hinsicht. In einigen Geschichten taucht die Gestalt des Autors selber auf und spielt quasi vor den Augen der Leserschaft mit seiner Rolle. Mal lässt er sich von seiner Figur ein verändertes Ende der Geschichte abhandeln, mal übernimmt er allmählich die Regie über die Wirklichkeit der Figuren. Wohlgemerkt: Obwohl er selbst eine Figur in der Geschichte ist. Stellt sich die Frage: Wohin ist die Erzählposition von Kehlmann gedriftet?
Das alles ist so unprätentiös und schlank erzählt, dass die Verwirrung im Leserkopf aufs Schönste nebelt. Diese luzide Undurchsichtigkeithat mich beschäftigt und beschäftigt mich noch.
Es kann aber alles auch ganz anders sein. Wieso eigentlich „Ruhm“?
Alan Bennett: Die souveräne Leserin
Dieses Buch ist mir zugelaufen. Urlaub, Sonnenglut und Lust zum Stöbern hatten mich in eine große Buchhandlung geführt. Die Wühltische, die Zweitplatzierungen und die Bestseller-Regale hatte ich schon passiert. Vor dem Lyrik-Regal in einem der oberen Stockwerke fragte ich die Verkäuferin nach Peter Rühmkorf. Wir kamen ins Gespräch über Bestseller (Denen wir beide – gelegentlich zu Unrecht - misstrauten.), über den Verkauf von Lyrik (Der wider mein Erwarten doch statt findet.) und über das Lesen schöngeistiger Literatur (Verzeihen Sie den antiquierten Ausdruck!) und überhaupt.
Ach, ich war einer Buchhändlerin begegnet. Sie gestand mir, die Liebesgedichte von Erich Fried zu lieben. Den sollte ich unbedingt kennen lernen. Sie zog fünf, sechs Bändchen aus dem Regal. Außerdem gäbe es da noch etwas, was mir sicher gefallen würde. Sie lief davon und kehrte mit einem schmalen roten Büchlein zurück. Schwärmerisch hielt sie es mir entgegen.
Ich gestehe, ich habe nicht einmal den (äußerst knappen) Klappentext gelesen. Beim ersten Aufblättern klappte zufällig eine hintere Seite mit einem Foto auf. Darauf der Autor mit seinem Schwein. Eine enthusiastische Buchhändlerin und ein Autor, der ein Schwein besitzt, das er am Halsband spazieren führt, das genügte: Ich kaufte das Bändchen.
Anderntags begann ich es vormittags zu lesen und legte es erst abends – nach der letzten Seite – aus der Hand.
Worum geht es? Bennett spielt die Frage durch, was passieren könnte, würde die Queen plötzlich zur leidenschaftlichen Leserin von Belletristik. Es zeigt sich, dass Lesen eine Leidenschaft von erstaunlich irritierender Kraft ist. Speziell in der Welt der „Messages“ und „Images“, in der permanent „lesen“ mit „informieren“ gleichgesetzt und also missverstanden wird.
Noch allgemeiner gefasst lautet die Frage: Was passiert mit und in einer zweckrationalen Welt, wenn sie mit der Lust an etwas „Zwecklosem“ konfrontiert wird?
Das ist keineswegs alles. Aber ich will der Entdeckungslust der Leser nicht vorgreifen.
Ein Wort noch zum Stil. Am schönsten ist: Bennett kommt ohne Radau, ohne hochtourige Comedy aus. Dieses Buch reißt keine Witze, es hat Witz. Der Kunstgriff, eine mächtige Person von Pflicht und Effizienz zu Bildung und Schönheit konvertieren zu lassen, wird von ihm zu verschmitzter Komik genutzt. Eine weitere Quelle des Vergnügens ist das Verschwimmen der Grenze zwischen Satire und genauem Realismus. Bennett beschreibt schlau die Realität, die ist Satire genug.
„Man liest zum Vergnügen“, sagte die Queen. „Lesen ist keine Bürgerpflicht.“
Dieses Buch ist glänzend dafür gemacht – fürs Vergnügen. Stürzen Sie sich hinein!
Übrigens ein Longseller. 2010 erschien die 13. Auflage.
Botho Strauss: Vom Aufenthalt
Spannend im üblichen Sinne ist dieses Buch nicht. Es hat keine Handlung. Einen roten Faden habe ich nicht gefunden. Worum es geht, habe ich nicht immer verstanden. Warum habe ich trotzdem von Weihnachten bis vorvorgestern jeden Tag eine oder zwei Seiten darin gelesen?
Wegen der Sprache. Die ist so umwerfend, dass ich manchmal vergaß, auf den Sinn der Wörter zu achten. Stattdessen lauschte ich einer Musik, von der ich nicht weiß, ob sie mehr im Text steckte oder überwiegend in mir selbst. Doch halt! Den Vergleich mit der Musik nehme ich zurück. Er ist nur konventionell.
Vielleicht so: Vor Zeiten bekam ich in Abständen per Post Pralinenpakete. Jedes Stück darin eine Liebeserklärung an die Aromentüchtigkeit des Menschen und völlig ungeeignet zum gedankenlosen Futtern vorm Fernseher. Gemacht für langsames, waches Genießen. Es dauerte öfters lange zehn Sekunden, bis der Inhalt seinen ganzen Zauber entfaltete. Dann aber hielt er viele Minuten an. Genüsse aromatischer Art empfand ich auch beim Lesen dieser kurzen Texte. Aphorismen, kurze Szenen, Beobachtungen, Maximen und Reflexionen, Splitter, Scherben über knapp 300 Seiten verstreut. Ein Sudelbuch der Postmoderne. Ungeordnet aus Überzeugung, weil alles Berichten eine Ordnung vortäuscht, Verstehen simuliert, wo doch Zusammenhanglosigkeit regiert. Unordnung als Prinzip, das sich selbst ad absurdum führt.
Strauss verzichtet ausdrücklich auf Ordnung und er verzichtet auf Jedermanns-Verständlichkeit. Sprache dient zu mehr als sich mitzuteilen und sie ist zu mehr in der Lage als zur Geschwätzigkeit weniger hundert Wörter. Um welche Themen geht es in diesem Buch? Um die Einfälle eines alten gebildeten Intellektuellen im Angesicht der Zeitläufte. Um Sprache, um Frauen, um Träume, um die Verhältnisse, um den Geist um … alles.
Ein Beispiel: „Denen die Augen leicht aufgehen, richten schnell über die armen Verblendeten. Doch vom Mysterium der Blendung wissen sie nichts.“ Das alles ist sehr formbewusst, mancher wird sagen elitär. Ich sage: „Slow food“ für die „happy few“. Am besten einen Happen zu sich nehmen, dann die Augen schließen und den Gedanken nachgehen.
Ein Tipp zum Schluss: Wenn Sie am Ende des Buches angekommen sind, lesen Sie die ersten Seiten noch einmal! Sie werden überrascht sein, was Sie noch entdecken und wie verständlich manches geworden ist, das anfangs nicht zu entschlüsseln schien.
Die Eleganz des Igels
„Die Eleganz des Igels“ ist ein philosophisches Märchen. Wen bei dieser Kategorie sogleich der Coelho-Horror befällt, der sei beruhigt: Kein Vergleich!
Die dickliche Witwe Renée(54) und die frühreife Paloma (12) wohnen im selben herrschaft-lichen Pariser Stadthaus. Renée unten in der Concierge-Wohnung und Paloma im wohlsituierten zweiten Stock. Beide sind hoch begabt und gebildet und beide kultivieren eine heimliche Überlegenheit über die anderen Bewohner des Hauses. Ihre Perspektiven sind verschieden, aber ihr Blick ist der gleiche: Verachtungsvoll sezieren sie die bürgerliche Oberschicht im Hause und notieren gallige Kommentare. Keine von ihnen will sich mit dieser selbstgefälligen und groben Welt der Gier und des Scheins einlassen. Renée versteckt sich in der Rolle der Concierge und Paloma hat beschlossen, an ihrem dreizehnten Geburtstag Selbstmord zu begehen.
Dieser erste Teil ist eine Sammlung philosophischer Essays. Jedes der kurzen Kapitel voller frappierender Beobach-tungen und aphoristischer Einfälle ist ein intellektuelles Lesevergnügen. Niemals gehen stilistische Leichtigkeit und Eleganz des Gedankens verloren. Auch tiefgründige Gedanken, weit mehr als die nummerierten 16, kommen leicht und unterhaltsam daher.
Die Splendid Isolation der beiden gerät ins Wanken, als Herr Ozu, ein pensionierter Japaner, in das Haus einzieht. Der nämlich entdeckt auf kurzem Wege die beiden in ihren Verstecken und holt sie hervor. Seine Kultiviertheit und Herzensbildung erwecken Renée und ermutigen Paloma. Was im zweiten Teil des Buches erzählt wird, ist die Geschichte von Aschenputtel. Ort und Zeit der Handlung sind nach Paris und ins Heute verlegt, ansonsten bestimmt der Archetyp Cinderella die Geschichte.
Da sind die Zutaten: Schwere Kindheit, der Prinz, die Taube (Paloma), die (geborgten) Kleider und Exotik, die sich zum Exotismus steigert.
Die Botschaft: Glück aber liegt nicht in Schönheit oder Verstand,sondern einzig in der Liebe (zu dem Menschen und zu den Menschen).
Das ist Kitsch für die Bildungsschicht, der Groschenroman für Philosophen. Was im Bastei-Roman der Adel von Geblüt ist, ist hier der Adel des Geistes. In diesem Teil der Geschichte spaltete sich meine Persönlichkeit. Der eine Teil (Kopf) urteilte: „Ach herrjeh, die Japaner retten die Welt! Schmarrn!“ Der andere Teil (Herz) suhlte sich in Wohlgefallen und Sympathie.
Warum empfehle ich das Buch dennoch?
Aus sentimentalen Gründen und wegen seiner Schönheit, seiner Eleganz. Vielleicht eher ein Sommerbuch, aber was für eines!
Sully Prudhomme: Intimes Tagebuch und Gedanken
Sully-Prudhomme war im 19. Jahrhundert weit gerühmt für seine Lyrik und ist heute vergessen. Zu Unrecht, wie ich finde. Mein Urteil stützt sich auf die angegebene deutsche Übersetzung, die vermutlich auch eine Auswahl ist.
Das Tagebuch ist intim, insofern es die Gedanken des Autors auch in den Facetten offenlegt, die er selbst nicht für öffentlichkeitswürdig oder öffentlichkeitsfähig hielt. Eine Scheu, die mir sympathisch ist. Subtilität und Formbewusst- sein bestimmen den Ton. Das Grobe, das Bourgeois-Praktische ist dem Manne fremd. Ästhetizismus und Dekadenz ergeben zusammen mit einer Fülle von Ideen und Einfällen eine reizvoll-anregende Lektüre.
Immer wieder finden sich Sätze von solcher Müdigkeit und Ermattung und – selbst in der Übersetzung – solcher Schönheit, die die Lektüre zum Genuss machen. Ich kenne das Original nicht und kann die Qualität der Übersetzung nicht beurteilen, aber der deutsche Text hat mich gefangen und die Sprache hat mich begeistert. Ja, es ist die Farbe des Ennui, und ja, es sind die Farben der Melancholie; ein Regenbogen in grün und blau und grau – da und dort von zauberhafter Schönheit.
Zugleich gibt das Tagebuch einen Einblick in die Soziologie des überfeinerten Dandys mit all ihrer Weltverweigerung und dem vergeblichen Widerstand gegen burschikose Durchsetzungskraft und letztlich der Gefährlichkeit der duftigen Verlockungen des Morbiden – der ästhetischen Variante des heutigen Tags wieder zu beobachtenden Rückzugs in die Biedermeierlichkeit der kleinen Welt.
Zum Schluss zwei Kostproben.
„Ich bin es müde, meinen Tagesablauf niederzuschreiben.“
„Die Frauen sind entzückt von den Gedichten, die man ihnen widmet, oder besser, sie sind entzückt, dass man ihnen Gedichte widmet; es ist nicht wesentlich, dass sie sie verstehen.“
Alles Übrige sollten Sie selber lesen.
J.M. Coetzee: Elizabeth Costello. Acht Lehrstücke
Die australische Schriftstellerin Elisabeth Costello hält Vorträge über Themen, die ihr wichtig sind, und hat fast immer Grund, es zu bereuen. Sie sucht, sie tastet, manchmal findet sie - und zweifelt daran und fragt sich, ob es lohnt, es aufzunehmen in den Text ihres Vortrages.
Ihre Vorträge klingen entschiedener als die denkt. Und natürlich werden sie ausgelegt, verwandeln sich ihre Texte beim Durchgang durch die Bedeutungssysteme der anderen, der Hörer. Was schwankend war wird fest und starr, weil das Unsagbare immer zwischen den Zeilen stehen muss und sich damit akademisch-logischer Beurteilung entzieht.
Ich bekenne: So habe ich das noch nie gelesen.
Das Buch kommt häufig trocken und sperrig daher, dann wieder gibt es Abschnitte von verstörender Klarheit und Schönheit. Die Abschnitte über die Hinrichtung der Verschwörer vom Juli 1944 und über die Liebe zwischen Göttern und Menschen haben mich - lax gesagt - umgehauen. Wie gesagt: Der Leser braucht Geduld, aber es lohnt sich.